In den letzten Jahren stand die gotische Kunst des 13. Jahrhunderts
im Mittelpunkt mehrerer großer Ausstellungen. Insbesondere
die Schauen in Magdeburg (2009), Naumburg (2011) und Paris (2014)
leisteten mit umfassenden Katalogen einen wichtigen Beitrag zur
Vertiefung unseres Wissens über die bedeutenden Kunstzentren
der damaligen Zeit. Vor diesem Hintergrund soll nun auch neu
bewertet werden, welche Rolle das Straßburger Münster
bei der Verbreitung und Weiterentwicklung dieser von Frankreich
ausgehenden Kunstströmung im Heiligen Römischen Reich
zu Beginn des 13. Jahrhunderts spielte. In einer bemerkenswerten
Untersuchung veranschaulichte Willibald Sauerländer bereits
1966 den Weg von Sens über Chartres nach Straßburg.
Diese Arbeit kann heute im Lichte jüngerer Erkenntnisse
fortgeführt werden. Man denke beispielsweise an die komplexe
Beziehung zwischen der Straßburger und der Burgunder Plastik:
während manche letztere als ein Bindeglied zwischen Chartres
und Straßburg verstehen, sehen andere in ihr eine zeitgenössische
oder sogar eine von Straßburg beeinflusste künstlerische Äußerung.
Bild: Christus vom Tympanon der Marienkrönung (Detail). Straßburg,
Münster, Südliches Querschiffportal, um 1220.
Foto der 1. Hälfte des 20. Jh, © DRAC Alsace, Service
des Patrimoines
Das Auftauchen des gotischen Stils in Straßburg kam einer
Revolution gleich. Innerhalb einer Generation nahm die Stadt
eine rasante Entwicklung und avancierte zu einem der bedeutendsten
Zentren der künstlerischen Produktion. Die Goldschmiedekunst,
die bereits zuvor von hoher Qualität war, nahm neue Einflüsse
aus dem Moselraum auf, und es ist gewiss kein Zufall, dass gerade
das Straßburger Siegel, mit dem der Stadt eine vom Bischof
unabhängige Rechtshoheit zuerkannt wurde, davon zeugt.
Die noch romanisch geprägte Bauplastik des Münsters
ist von eher bescheidener Qualität, das gotische Bildwerk
ist dagegen einzigartig; und während beim Münsterbau
die Kathedralen naher oder auch weiter entfernter Nachbarstädte
wie Basel und Worms Pate gestanden hatten, ging von den Statuen
des Straßburger Münsters in den folgenden drei Jahrhunderten
eine nachhaltige Strahlwirkung aus. Ausgelöst wurde diese
Revolution vermutlich durch die Wahl eines Bildhauers, oder vielmehr
eines Bildhauers und Baumeisters, der zuvor am Bau der Kathedrale
von Chartres mitgewirkt hatte.
Marienkrönung am Südportal des Straßburger Münsters
Allerdings sind diese Zusammenhänge in Historikerkreisen
noch weitgehend umstritten, und zwar sowohl hinsichtlich der
zeitlichen Abfolge und der Beziehungen zwischen den alten und
den neuen Steinmetz- und Bildhauergruppen als auch in Bezug auf
die genaue Bedeutung des Bildprogramms und die Kontakte zu anderen
Bauhütten. Der Ausstellungskatalog bietet den bedeutendsten
Fachleuten aus Frankreich und Deutschland die Gelegenheit zum
Dialog und analysiert das Meinungsbild kritisch. Für die
Forschung stellt er einen wertvollen Vorstoß auf dem Weg
zu „vertretbaren Gewissheiten“ dar. Auch aus Sicht
des breiten Publikums ist diese Bündelung anerkannter Fakten
und neuer Erkenntnisse von Interesse: während die einen
ihr Wissen vertiefen können, werden die anderen eine herausragende
Periode des Straßburger Kunstschaffens entdecken.
Geburtsszene vom Lettner der Kathedrale in Chartres, 1220. Kalkstein.
Chartres, Kathedrale Notre Dame
©
Région
Centre-Val de Loire, Inventaire général, Mariusz
Harmanowicz; Anna Guillen
Als Ausstellungort lag das Museum OEuvre Notre-Dame auf der
Hand, denn in diesem der regionalen Kunst des Mittelalters und
der Renaissance gewidmeten Haus werden mit Ecclesia und Synagoge
die beiden Hauptwerke des Straßburger Meisters sowie mehrere
andere Arbeiten aus der gleichen Werkstatt aufbewahrt. Damit
richtet das Museum einmal mehr den Fokus auf jene Künstler
und Epochen, die für die kunstgeschichtliche Entwicklung
der Stadt von prägendem Einfluss waren.
Die Wiederentdeckung von verschollenen Werken des Meisters
Im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Ausstellung wurde der
Kopf des Heiligen Johannes wiederentdeckt. Die Figur des Evangelisten
befand sich am Südportal des Münsters und fiel wie
fast alle anderen Apostel der Gruppe dem Bildersturm der Französischen
Revolution zum Opfer.
Das von alten Fotografien bekannte Fragment war bis in die 1920er
Jahre in Straßburg und befindet sich heute in Privatbesitz.
Für die Ausstellung wurde es freundlicherweise als Leihgabe
zur Verfügung gestellt. Es zeugt vom Facettenreichtum des
Meisters und verdeutlicht die stilistische Nähe zur Burgunder
Plastik. Aufgrund seiner handwerklichen Vollendung und der nuanciert
gestalteten Gesichtszüge des Apostels darf das Stück
als eines der ausgereiftesten Werke des Künstlers gelten.
Zu sehen sind ferner Arbeiten, die der Nachfolge des Meisters
oder von ihm beeinflussten regionalen Künstlern zugeschrieben
und trotz ihrer hohen Qualität aus Platzmangel im Depot
des Museums aufbewahrt werden. Sehr gut veranschaulichen eine
monumentale liegende Figur und das Fragment einer Statue mit
langem, fließendem Gewand die nachhaltige Strahlkraft der
Werkstatt des Meisters.
Neue Erkenntnisse über das Münster
Im Zusammenhang mit dem Ausstellungsprojekt wurde die polychrome
Bemalung der Figuren des Engelspfeilers sowie von Ecclesia und
Synagoge eingehend untersucht. Dadurch konnten neue Erkenntnisse über
das ursprüngliche Aussehen dieser Plastiken gewonnen werden.
Neue Hypothesen über den Ablauf der Bauarbeiten und die
Arbeitsaufteilung unter den Steinmetzen wurden im Ergebnis eines
Vergleichs der Steinmetzzeichen aufgestellt, der mit Unterstützung
der Fondation de l’OEuvre Notre-Dame vor Ort erfolgte.
Insgesamt ergaben sich bei der Vorbereitung der Schau mehrere
bisher unbekannte Aspekte über das Münster und seine
Errichtung.
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