Mumien - Archive zum Menschen
Dem Tod folgt die Verwesung, Körper lösen sich auf nach
den Gesetzmäßigkeiten des natürlichen Stoffkreislaufs. Im
Schrecken angesichts dieses Verschwindens dürfte ein weltweites
und tief in die Geschichte zurückreichendes Phänomen begründet
sein: die Mumifizierung. Ein geliebter Mensch soll nie vergehen,
soll ewig bleiben. Maßnahmen gegen den Zerfall wurden auf
allen Kontinenten und auch schon vor Tausenden von Jahren
ergriffen. Sie reichten von der ausgeklügelten Behandlung
von Leichen bis zur Nutzung natürlicher Gegebenheiten. Denn
unter bestimmten Bedingungen erhalten sich Körper auch ohne
konservierende Eingriffe, etwa im heißen und trockenen Wüstensand.
So entstanden Millionen von Mumien. Sie faszinierten, wo
immer sie auftauchten, durchbrechen sie doch das Gesetz
der Vergänglichkeit.
Mumien gelangten in Museen als gerettete Überbleibsel vergangener
Kulturen, als Funde aus archäologischen Grabungen, als Belege
ethnografischer Feldforschung oder als Gegenstände anthropologischer
Untersuchungen. Auch die Reiss-Engelhorn- Museen in Mannheim
haben einen nennenswerten Bestand an Mumien.
Die weltweite Museumsgemeinschaft hat sich über ihre Verbände
Richtlinien zum Umgang mit menschlichen Überresten gegeben.
Sie verlangen, dass Mumien oder Skelette sicher unterzubringen
und mit Respekt zu behandeln sind. Außerdem müssen wissenschaftliche
Untersuchungen an ihnen mit professionellen Standards erfolgen
und den Interessen und Glaubensgrundsätzen der gesellschaftlichen,
ethnischen oder religiösen Gruppen, denen die Objekte entstammen,
Rechnung tragen. Dieser besonderen Verpflichtung zum Bewahren
folgen die Reiss-Engelhorn-Museen, ebenso wie der zum Forschen
und Präsentieren als ureigener Aufgabe der Museen.
2004 wurde deshalb das rem-Mumienforschungsprojekt ins
Leben gerufen, es ist eines der umfangreichsten Projekte
weltweit. Es gelang, renommierte Wissenschaftler aus dem
In- und Ausland dafür zu gewinnen, Anthropologen, Anatomen,
Mediziner, Chemiker, Physiker, Biologen und Genetiker. Alle
Untersuchungen wurden objektschonend durchgeführt, Probenentnahmen
auf ein Minimum beschränkt. Mittels Computertomografie,
DNA-, Drogen- und Keratin- Isotopenanalyse und radiometrischer
Datierung ist es z. B. möglich, Geschlecht, Individualalter,
Größe und Herkunft der Toten festzustellen sowie etwas über
Altersstellung, Krankheiten, Ernährungsweise und Todesursache
zu erfahren. Rapid-Prototyping erlaubte die Rekonstruktion
des Schädels einer präkolumbischen Kindermumie auf der Basis
von CT-Scans.
Die Ergebnisse der rem-Mumienforschung ermöglichen eine
Neubewertung des Forschungsstandes: Erstmals wurde eine
künstliche Mumifizierung in Form einer Balsamierung auch
für Altamerika nachgewiesen.
Mumien sind die einzigen direkten Archive zum Menschen,
vieles an Erkenntnissen kann nur durch ihre Untersuchung
gewonnen werden. Diese Informationen sind eine wichtige
Ergänzung zu den Daten aus archäologischem oder historischem
Kontext. Wie Boten tragen Mumien Wissen um Umweltbedingungen,
Lebens- und Ernährungsgewohnheiten und sogar um Gedachtes
mit sich. Im Gegensatz zum eher abstrakten Skelett erlauben
sie zudem die unmittelbare Begegnung mit einem Individuum,
das in weit zurückliegenden Zeiten gelebt hat. So fesseln
Mumien in mannigfaltiger und legitimer Weise: wegen der
Fragen, die ihr bloßes Vorhandensein aufwirft und wegen
der Erkenntnisse, die ihre Erforschung verspricht.
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