Man wähnt sich im Strudel des urbanen Nachtlebens und dreht sich
- den Kopf in den Nacken gelegt - im Universum der hell illuminierten
Wolkenkratzer und Leuchtschriften um die eigene Achse. Geräuschlos
verschmelzen alle Lichtpunkte gleich Sternen des Nachthimmels
zu einem kreisförmigen Kometenschweif. Das Getöse des Großstadtdschungels
bleibt ausgeblendet, sogar die stetig aufheulenden Polizeisirenen
vermögen diesen Schleier der Stille nicht zu durchbrechen. Um
den gewünschten Effekt zu erzielen, richtete Fritz Henle seine
auf einem Stativ befestigte und mit einem Weitwinkelobjektiv ausgestattete
Rolleiflex gen Himmel, stellte die Kamera auf eine längere Belichtungszeit
ein und drehte sie sodann im Kreis. Innerhalb des auf diese Weise
entstandenen vielschichtigen Lichterzirkels lassen sich im oberen
rechten Bildviertel drei Buchstaben ausmachen: "RCA". Aufgrund
dieses Details erfährt das Bildsujet eine überraschende Konkretisierung:
Es handelt sich um das ehemalige RCA Building (das Kürzel steht
für "Radio Corporation of America"; heute GE Building genannt).
Dieser 70stöckige Skyscraper ist das größte des 21 Gebäude umfassenden
Rockefeiler Centers in Mid-town Manhattan. Vermutlich der gleichen
Nacht wie die hier besprochene Fotografie entstammt eine Aufnahme,
bei welchem die erleuchteten Fensterquadrate des RCA Gebäudes
zu vertikalen und horizontalen Streifen verschwimmen. Auf einer
dritten Aufnahme von 1937 ist das Hochhaus im hellen Sonnenlicht
mit einem davor platzierten Chevrolet zu sehen. In Bezug auf diese
Ansicht notierte der Fotograf: "One of my first impressi-ons".
Der Begriff "Impressions" bezeichnet dabei einen zentralen Aspekt
seines fotografischen Wirkens, nämlich "das Vorgefundene emotional
einwirken zu lassen und es dann fotoästhetisch umzusetzen" (Enno
Kaufhold). Bekannt wurde Fritz Henle unter dem Beinamen "Mr. Rollei".
Das Henle-Archiv in der Universität von Texas in Austin umfasst
denn auch 155.200 Rollei-Negative. Die Rolleiflex kam 1929 auf
den Markt und fand nicht zuletzt wegen ihres anwenderfreundlichen
Rollfilms sogleich eine weite Verbreitung. Da sie zwei übereinander
angeordnete Linsen aufweist, wird sie "die Zweiäugige" genannt.
Dabei wird das anvisierte Sujet auf eine Mattscheibe projiziert,
so dass man die Kamera beim Fotografieren nicht vor die Augen
führen muss. Ein weiteres Merkmal der Rollei ist das quadratische
Format ihrer Aufnahmen. In "New York at night" setzt Henle das
Quadrat dem kreisförmigen Lichtstrudel entgegen. Daraus resultiert
ein Wechselspiel zwischen den spürbar zentrifugalen Kräften des
Motivs und dessen Sogwirkung zur Mitte hin, was dem Bild eine
starke Dynamik verleiht. Im Jahr 1936, also neun Jahre vor dem
Entstehen der beiden Nachtaufnahmen des RCA Gebäudes, hatte Fritz
Henle, dessen Familie väterlicherseits jüdischen Ursprungs war,
aus dem im nationalsozialistischen Sumpf versinkenden Deutschland
kommend den Hafen von New York City erreicht. Es ließe sich die
Vermutung anstellen, ob "New York at night" eine Reminiszenz an
Henles "ersten Eindruck" bei seiner Ankunft in dieser pulsierenden
Metropole widerspiegelt. Am 09. Juni 1909 in Dortmund geboren,
verbrachte Henle dort den Großteil seiner Jugend, wo sein Vater
Adolf Henle als Chirurg die städtischen Krankenanstalten leitete.
Fritz Henles Tochter Tina Henle bestätigte jedoch in einem persönlichen
Gespräch die Annahme, dass ihr Vater ebenfalls in Heidelberg zur
Schule ging.
Bereits vor dem Abschluss des Abiturs im Jahre 1929 begann Henle,
sich als Autodidakt in einer unter dem Musikzimmer seines Elternhauses
eingerichteten Dunkelkammer erste Kenntnisse der Fotografie anzueignen.
Er absolvierte daraufhin eine zweijährige Ausbildung als Fotograf
bei Hanna Seewald an der Bayrischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen
in München. Die daran anschließende Tätigkeit als Fotografie-Assistent
in Florenz war erster Ausdruck einer Reiselust, welche Henle ein
Leben lang begleiten sollte. So unternahm er von 1933 bis zu seiner
Emigration in die USA Reisen im Mittelmeerraum, nach Indien, China,
Japan und Korea. Später folgten Reisen unter anderem nach Frankreich,
Kanada, Mexiko und in die Karibik. Nach St. Croix auf den Virgin
Islands verlegte er ab 1958 zusammen mit seiner zweiten Frau Marguerite
Williams auch seinen Wohnsitz. Am 31. Januar 1993 verstarb Henle
in einem Krankenhaus in Puerto Rico. Von Beginn an hatte sich
Fritz Henle als Reisefotograf verstanden - und sich "die Dokumentation
des Lebens und der Kultur fremder Länder zur Lebensaufgabe gemacht"
(Helmut Gernsheim).
Unlängst
wurde die mit einem signierten Passepartout versehene Fotografie
"New York at night" dem Kurpfälzischen Museum im Rahmen einer
Schenkung der Sammlung Waltraut und Reinhold Zundel übergeben.
Der lokale Bezug zu Heidelberg ist bei diesem weltreisenden Fotografen
durchaus gegeben. Denn auch nach seiner Schulzeit zog es ihn in
regelmäßigen Abständen hierher - so hielt sich Henle 1930 ebenfalls
längere Zeit in Heidelberg auf (Enno Kaufhold). Es entstand mindestens
eine Aufnahme des Heidelberger Schlosses vom Turm der Heilig-Geist-Kirche
aus. "Er liebte Heidelberg wegen der Erinnerungen an seine Jugend
und fuhr deshalb bis ins hohe Alter regelmäßig anlässlich seiner
Kuraufenthalte in Bad Mergentheim nach Heidelberg." (Brigitte
Buberl in einer persönlichen Korrespondenz).
llka Brändle
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