Kunstwerk des Monats
September 2007
Sammlungsblatt

Fritz Henle (Dortmund 1909 - 1993 Virgin Islands)
"New York at night"

 

Man wähnt sich im Strudel des urbanen Nachtlebens und dreht sich - den Kopf in den Nacken gelegt - im Universum der hell illuminierten Wolkenkratzer und Leuchtschriften um die eigene Achse. Geräuschlos verschmelzen alle Lichtpunkte gleich Sternen des Nachthimmels zu einem kreisförmigen Kometenschweif. Das Getöse des Großstadtdschungels bleibt ausgeblendet, sogar die stetig aufheulenden Polizeisirenen vermögen diesen Schleier der Stille nicht zu durchbrechen.

Um den gewünschten Effekt zu erzielen, richtete Fritz Henle seine auf einem Stativ befestigte und mit einem Weitwinkelobjektiv ausgestattete Rolleiflex gen Himmel, stellte die Kamera auf eine längere Belichtungszeit ein und drehte sie sodann im Kreis. Innerhalb des auf diese Weise entstandenen vielschichtigen Lichterzirkels lassen sich im oberen rechten Bildviertel drei Buchstaben ausmachen: "RCA". Aufgrund dieses Details erfährt das Bildsujet eine überraschende Konkretisierung: Es handelt sich um das ehemalige RCA Building (das Kürzel steht für "Radio Corporation of America"; heute GE Building genannt). Dieser 70stöckige Skyscraper ist das größte des 21 Gebäude umfassenden Rockefeiler Centers in Mid-town Manhattan. Vermutlich der gleichen Nacht wie die hier besprochene Fotografie entstammt eine Aufnahme, bei welchem die erleuchteten Fensterquadrate des RCA Gebäudes zu vertikalen und horizontalen Streifen verschwimmen. Auf einer dritten Aufnahme von 1937 ist das Hochhaus im hellen Sonnenlicht mit einem davor platzierten Chevrolet zu sehen. In Bezug auf diese Ansicht notierte der Fotograf: "One of my first impressi-ons". Der Begriff "Impressions" bezeichnet dabei einen zentralen Aspekt seines fotografischen Wirkens, nämlich "das Vorgefundene emotional einwirken zu lassen und es dann fotoästhetisch umzusetzen" (Enno Kaufhold).

Bekannt wurde Fritz Henle unter dem Beinamen "Mr. Rollei". Das Henle-Archiv in der Universität von Texas in Austin umfasst denn auch 155.200 Rollei-Negative. Die Rolleiflex kam 1929 auf den Markt und fand nicht zuletzt wegen ihres anwenderfreundlichen Rollfilms sogleich eine weite Verbreitung. Da sie zwei übereinander angeordnete Linsen aufweist, wird sie "die Zweiäugige" genannt. Dabei wird das anvisierte Sujet auf eine Mattscheibe projiziert, so dass man die Kamera beim Fotografieren nicht vor die Augen führen muss. Ein weiteres Merkmal der Rollei ist das quadratische Format ihrer Aufnahmen. In "New York at night" setzt Henle das Quadrat dem kreisförmigen Lichtstrudel entgegen. Daraus resultiert ein Wechselspiel zwischen den spürbar zentrifugalen Kräften des Motivs und dessen Sogwirkung zur Mitte hin, was dem Bild eine starke Dynamik verleiht. Im Jahr 1936, also neun Jahre vor dem Entstehen der beiden Nachtaufnahmen des RCA Gebäudes, hatte Fritz Henle, dessen Familie väterlicherseits jüdischen Ursprungs war, aus dem im nationalsozialistischen Sumpf versinkenden Deutschland kommend den Hafen von New York City erreicht. Es ließe sich die Vermutung anstellen, ob "New York at night" eine Reminiszenz an Henles "ersten Eindruck" bei seiner Ankunft in dieser pulsierenden Metropole widerspiegelt.

Am 09. Juni 1909 in Dortmund geboren, verbrachte Henle dort den Großteil seiner Jugend, wo sein Vater Adolf Henle als Chirurg die städtischen Krankenanstalten leitete. Fritz Henles Tochter Tina Henle bestätigte jedoch in einem persönlichen Gespräch die Annahme, dass ihr Vater ebenfalls in Heidelberg zur Schule ging.

Bereits vor dem Abschluss des Abiturs im Jahre 1929 begann Henle, sich als Autodidakt in einer unter dem Musikzimmer seines Elternhauses eingerichteten Dunkelkammer erste Kenntnisse der Fotografie anzueignen. Er absolvierte daraufhin eine zweijährige Ausbildung als Fotograf bei Hanna Seewald an der Bayrischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen in München. Die daran anschließende Tätigkeit als Fotografie-Assistent in Florenz war erster Ausdruck einer Reiselust, welche Henle ein Leben lang begleiten sollte. So unternahm er von 1933 bis zu seiner Emigration in die USA Reisen im Mittelmeerraum, nach Indien, China, Japan und Korea. Später folgten Reisen unter anderem nach Frankreich, Kanada, Mexiko und in die Karibik. Nach St. Croix auf den Virgin Islands verlegte er ab 1958 zusammen mit seiner zweiten Frau Marguerite Williams auch seinen Wohnsitz. Am 31. Januar 1993 verstarb Henle in einem Krankenhaus in Puerto Rico. Von Beginn an hatte sich Fritz Henle als Reisefotograf verstanden - und sich "die Dokumentation des Lebens und der Kultur fremder Länder zur Lebensaufgabe gemacht" (Helmut Gernsheim).

Unlängst wurde die mit einem signierten Passepartout versehene Fotografie "New York at night" dem Kurpfälzischen Museum im Rahmen einer Schenkung der Sammlung Waltraut und Reinhold Zundel übergeben. Der lokale Bezug zu Heidelberg ist bei diesem weltreisenden Fotografen durchaus gegeben. Denn auch nach seiner Schulzeit zog es ihn in regelmäßigen Abständen hierher

- so hielt sich Henle 1930 ebenfalls längere Zeit in Heidelberg auf (Enno Kaufhold). Es entstand mindestens eine Aufnahme des Heidelberger Schlosses vom Turm der Heilig-Geist-Kirche aus. "Er liebte Heidelberg wegen der Erinnerungen an seine Jugend und fuhr deshalb bis ins hohe Alter regelmäßig anlässlich seiner Kuraufenthalte in Bad Mergentheim nach Heidelberg." (Brigitte Buberl in einer persönlichen Korrespondenz).

llka Brändle

 

Literatur:
Fritz Henle, Mit den Augen eines Rolleigrafen, Seebruck am Chiemsee 1964: Heering Verlag.
Fritz Henle, Paris 1938 (Ausst.-Kat.), Dortmund 1989: Edition Braus Heidelberg.
Fritz Henle, Die Quadratur der Schönheit (Ausst.-Kat.), hrsg. von Brigitte Buberl, Dortmund 1994: Edition Braus Heidelberg.

 

s/w Abzug, Vergrößerung vom Negativ
um 1945
25,8 x 25,8 cm
Sammlung Waltraut und Reinhold Zundel
Foto: Museum (Gattner)

 
 
siehe auch:

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