Kunstwerk des Monats
Oktober 2006

Igor von Jakimow: Zwei Mädchenakte

 

Der 1885 in Polotjobnoje in der russischen Provinz Rjasan als Sohn eines Rechtsanwaltes und Gutsbesitzers geborene Igor von Jakimow sollte ursprünglich in die Fußstapfen seines Vaters treten und Jurist werden. Einundzwanzigjährig schlug er jedoch einen ganz anderen Berufsweg ein und ging, mit dem Ziel Bildhauer zu werden, nach Paris. Prägend wurde für ihn hier sein Kontakt zu den französischen Malern und Bildhauern E. A. Bourdelle und H. Matisse. Auch seine erste Frau, die Kunststudentin Annemarie Kruse (Tochter des Berliner Bildhauers Max Kruse), lernte er in Paris kennen. 1918 ließ sich die junge Familie in Berlin nieder. Die Berliner Jahre gehören zu den kreativsten Schaffensphasen in Jakimows künstlerischem Werdegang. Er stellte in dieser Zeit jährlich in der Freien Sezession und auf Einladung des Direktors Max Liebermann auch in der Akademie aus. Nach der Trennung von seiner Frau und der Teilnahme an einer archäologischen Expedition (1928/30), deren Eindrücke er in seinem Buch "Orientalische Briefe" festhielt, ließ sich Igor von Jakimow schließlich 1931 in Heidelberg nieder, wo er die Violinistin Louise Michelis heiratete. Bis zu seiner Einberufung sowie nach dem Zweiten Weltkrieg beschickte er bis in die 1950er Jahre hinein erneut zahlreiche Ausstellungen.
Wenngleich sich Igor von Jakimow vornehmlich als Bildhauer verstand und hier seinen Schwerpunkt im Bereich des Aktes und der Bildnisbüste legte, hat er doch ein sehr vielseitiges, breitgefächertes Oeuvre hinterlassen. So übernahm er beispielsweise Auftragsarbeiten für die Firma Käthe Kruse, für die er Puppenköpfe modellierte. Zustande kam dieser Kontakt über seine erste Gattin, deren Stiefmutter Käthe Kruse war. Außerdem war er als Maler, Zeichner und Radierer tätig. Wie bei seinem plastischen Oeuvre befasste er sich auch in diesem Bereich häufig mit dem Sujet des Aktes. Weitere bevorzugte Motive waren Landschaften, Stillleben, Porträts und Figurenkompositionen. Seine Arbeiten blieben stets dem Gegenständlichen verhaftet, wenn sie auch unterschiedliche Grade und Ansätze der Abstraktion zeigen.
Für die kleinformatige Radierung, die 1921 in Berlin entstand, wählte Jakimow das von ihm bevorzugte Sujet des Aktes. Zwei Mädchen- oder Frauenakte, wobei man am linken Blattrand noch eine dritte Figur erahnen kann, hielt er in unterschiedlichen Posen fest. Die sie umgebende Landschaft, der situative Zusammenhang ist lediglich ganz reduziert mit wenigen charakteristischen Linien angedeutet. Nahe liegt eine Deutung als Badeszene in freier Natur.
Bei dem vorliegenden druckgraphischen Blatt handelt es sich um eine Neuerwerbung des Museums, die den Sammlungsbestand sinnfällig ergänzt und erweitert. Die beiden Frauenakte stehen in ihrer figürlichen Darstellung, den klar umrissenen Konturen der leicht abstrahierten Körper einer in Museumsbesitz befindlichen Folge von Aquarellen des Künstlers nahe, die ebenfalls seinen frühen bzw. Berliner Arbeiten zuzuordnen sind.
Obschon sich Igor von Jakimow nicht direkt einer der herrschenden Kunstrichtungen anschloss, sind in seinen Arbeiten doch zeitgenössische Strömungen und Tendenzen zu spüren, wie beispielsweise entfernte Anklänge an die Bildfindungen Matisses, mit dessen Arbeiten sich der junge Russe während seines Parisaufenthaltes auseinander setzte. Mit ihren mit wenigen Linien klar konturierten Körpern, den weich fließenden Lineaturen, der abstrahierenden Reduktion der Formen, scheint seine Radierung entfernt an die von Matisse angestrebte Vereinfachung des Gegenständlichen, den Verzicht auf eine Hell-Dunkel-Modellierung der Körper, das Streben nach Gleichgewicht und Harmonie von Komposition, Farbe und Form anzuknüpfen. Auch der dekorative Aspekt der Arbeit kann als Anknüpfungspunkt verstanden werden. Wobei all' diese Assoziationen bei Jakimows Aquarellen klarer zu Tage treten als bei seiner druckgraphischen Arbeit.
Augenfälliger erscheinen hier der Einfluss und die Nähe zur Auffassung der "Brücke"-Maler. Eines der oder vielleicht das herausragende Bildsujet der Dresdner "Brücke"-Jahre ist der Akt, mit dessen Darstellung in der Landschaft sich die Künstler dem Ideal eines von Zwängen befreiten und im Einklang mit der Natur geführten Lebens zu nähern suchten. In Berlin hatte Jakimow die Gelegenheit, sich direkt mit diesen und auch späteren Arbeiten auseinander zu setzen. So erinnern seine Mädchenakte vage an typische Bildfindungen verschiedener "Brücke"-Künstler (wie Mueller, Heckel oder Kirchner). In ihrer Zartheit und "Leichtigkeit" stehen sie wohl den Zeichnungen und druckgraphischen Arbeiten Otto Muellers am nächsten. So gleicht beispielsweise die Stehende, wenn auch weicher in der Linienführung, in Haltung und Ansatz dem stehenden Akt einer zeitgleichen Lithographie ("Mädchen im Bade") Muellers.
Wie Muellers Akte haben auch Jakimows Mädchenakte nichts von der oft direkten, provozierenden Erotik, wie man sie beispielsweise bei Kirchner findet. Und auch das bildnerische Mittel der Deformation und Verzerrung setzt er wohl bewusst nicht ein und entscheidet sich für eine ruhige, ausgeglichene, in ihrer Reduktion fast "überzeitlich" wirkende Komposition. In der scheinbaren Einfachheit ihrer Darstellung präsentiert die Radierung zarte und elegante Silhouetten des weiblichen Körpers, harmonisch eingebettet in eine skizzenhaft verkürzte, formelhaft reduzierte Natur.
"Das ganze Leben besteht aus Bruchstücken, die man beständig sammeln und vereinigen muss. Aber das Leben ist so kurz, und groß ist Dein Glück, wenn Du - sei es auch nur aus einem Bruchstück - das Wesen des Ganzen erkennen kannst." schrieb Jakimow in seinen "Orientalischen Briefen" und später 1942 während des Krieges in Russland, wo er jede freie Minute zum Zeichnen und Malen nutzte: "Im Urwald hier wirkt der Geist der Ewigkeit, menschliche Leiden erschaut man durch das Prisma kosmischer Gesetze; in der Stadt aber wird man in einer konventionellen Atmosphäre leben." In diesen Zeilen offenbart sich letztlich seine Suche nach dem Ursprünglichen, nach "natürlicher Ganzheit" und eine klare Differenzierung von städtischem, den Konventionen verhaftetem Leben und dem Ideal eines freien Lebens im Einklang mit der "ewigen" Natur. In dieser "Suche bzw. Sehnsucht nach dem Ursprünglichen" rückt er gedanklich und künstlerisch in die Nähe der Expressionisten. Wie Mueller bewegt er sich mit seinen "Badenden" im Kontext von Tradition und Zeitgeist, insofern als Künstler seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Thema als motivische Grundlage für die Darstellung eines friedvollen, von Konflikten unbelasteten menschlichen Miteinanders im Einklang mit der Natur einsetzten. Außerhalb von Zivilisation und Konvention erscheint der Mensch in einem natürlichen und folglich als ursprünglich empfundenen Zustand.

Anja-Maria Roth

Literatur:
Elger, Dietmar: Expressionismus, eine deutsche Kunstrevolution, Köln 1991.
Jakimow, Igor von: Jenseits der Grenzen, Heidelberg 1946.
Jakimow, Igor von: Orientalische Briefe, Heidelberg 1949.
Moeller, Magdalena M. (Hrsg.): Auf der Suche nach dem Ursprünglichen. Mensch und Natur im Werk von Otto Mueller und den Künstlern der Brücke, Brücke-Archiv 21/2004, München 2004.

 

Zwei Mädchenakte, 1921
Kaltnadelradierung mit Plattenton in Schwarzbraun
25,2 x 16,8 cm (Platte)
Inv. Nr. S 10249

Bild: Museum (Gattner)

 
 
siehe auch:

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