Kunstwerk des Monats
September 2006
- Sammlungsblatt -

Nürnberger Deckelpokal - Ein Restaurierungsfall

 

In seiner heutigen Erscheinung entspricht der Deckelpokal keinem einheitlichen Gestaltungsprinzip. Vielmehr ist er das Werk eines ambitionierten Liebhabers des 19. Jahrhunderts, der unterschiedlich alte Restteile von mindestens drei kostbaren Gegenständen bestmöglich verwertete. Der formdominierende und zugleich älteste Teil des Pokals besteht aus der Kuppa und dem Deckel eines Nürnberger Pokales aus geblasenem Glas, 1665 gefertigt zu Ehren des Johann Caspar von Ampringen, Hochmeister des deutschen Ordens zu Mergentheim. Die Gestaltung des Glasgefäßes geschah in der unverwechselbaren Eigenform der Nürnberger Pokale, die sich bis gegen 1715 behauptete. Seine Einzigartigkeit gewinnt der Pokal durch den Glasschnitt, dessen künstlerische Bewältigung und Entwicklung im 17. Jh. den Nürnberger Glasschneidern hervorragend gelang.

Sie benutzten ein fußbetriebenes, rotierendes Schneidrad, um die glänzende Glasfläche nach einer Vorlage so zu schneiden und zu mattieren, dass die unterschiedliche Brechung des Lichtes Ornamente, Figuren oder ganze Szenerien auf der Glasfläche hervortreten lässt. Das in dieser Weise entstandene Portrait von Johann Caspar von Ampringen und das gegenseitige aufwändig gerahmte Wappen erforderte große Genauigkeit der Zeichnung und virtuose Beherrschung der Einzelzüge. In dieser Technik verziert, stand die Kuppa einst würdevoll auf einem runden gläsernen Fuß und einem hohen Schaft, für den einzeln geblasene Hohlformen wie Baluster, Kugeln, Trommeln und Scheiben in noch heißem Zustand miteinander verbunden wurden. Dementsprechend erschien auch die heute fehlende Handhabe des Deckels in mehrfacher Gliederung, endend in einem kugeligen oder birnenförmigen Glasknopf.

Mit der Formbarkeit in der Schmelze und der Möglichkeit des Schneidens und Schleifens geht aber auch eine unvorteilhafte Eigenschaft des Glases einher. Es ist die Zerbrechlichkeit des spannungsreichen Werkstoffes, die über das Schicksal des Ehrenpokals von Johann Caspar von Ampringen bestimmen sollte. Der Glaspokal zerbrach einst wohl so unglücklich, dass Fuß, Schaft und Deckelhandhabe verloren waren. Eine erneute Präsentation des Pokals konnte offenbar nur durch die Ergänzung der tragenden Teile gelingen. So ersetzte ein Restaurator des 19. Jahrhunderts den fehlenden Glasfuß durch einen sechspassigen, gotischen Kelchfuß und an die Stelle des Glasschaftes fügte er zwischen vergoldete Blechmanschetten das Mittelstück eines barocken Degengriffs und einen nicht zugehörigen, silbernen Kugelnodus. Hätte sein Zeitgenosse, der Kunsttheoretiker John Ruskin (1819-1900) den Deckelpokal nach dieser Reparatur zu Gesicht bekommen, wäre sein Urteil vermutlich vernichtend ausgefallen. Als Verfechter einer neuen Auffassung im Umgang mit Kulturgut, insbesondere mit Baudenkmälern, schrieb er in seinen wegweisenden Schriften „Seven Lamps of Architecture“ von 1849: „Statt ein Baudenkmal durch kalte und falsche, ja unmögliche Ergänzungen bis zur Unkenntlichkeit zu verunstalten, sollte man besser die Vergänglichkeit akzeptieren. Die Lüge der Restaurierung ist für ein altes Gebäude schlimmer, als wenn es in einem Haufen Staub zusammengefallen und im Sumpf versunken wäre.“ Hinter dieser Überzeugung steht eine ehrfürchtige Haltung gegenüber dem gealterten, unverfälschten Zustand von Denkmälern und Kunstwerken, wie sie im 19. Jh. nicht selbstverständlich war. Es war die Zeit, in der Restauratoren und Denkmalpfleger in die Lager der „Rückrestaurierer und Vollender“ und der reinen „Konservierer“ gespalten war. Dass der Restaurator, der den Deckelpokal im 19. Jahrhundert aus material- und zeitfremden Resten zusammenbaute, tendenziell zu den ersteren gehörte, ist offensichtlich. Mit der Vereinigung von zusammenhanglosen alten Teilen zu einem neuen Werk wurde das Ziel allerdings weit verfehlt, eines der beteiligten Objekte durch eine idealtypisch korrigierende Ergänzung wiederherzustellen. Viel wichtiger schien damals die Verwendung von „antikem“ Material, um die Stimmung der alten Zeit wieder zu erwecken. Damit wurde ein schöpferischer Ansatz der Restaurierung fortgeführt, wie er Jahrhunderte vorher bereits bestand. So hatten restauratorische Eingriffe im Mittelalter meist nicht zum Ziel, das Aussehen eines Kunstwerkes wiederherzustellen, vielmehr wurde das Werk selbst durch Erweiterung oder Veränderung der ursprünglichen Gestalt in die eigene Zeit weitergeführt. Die Restauratoren der Renaissance, die meist selbst Künstler waren, hofften durch Einfügungen und Überfassungen ihre Vorbilder sogar zu übertreffen. Dieser gestalterische Wille blieb in der Restaurierung des 17. und 18. Jahrhunderts bestehen, so dass es immer wieder zu großen Eingriffen und Uminterpretationen kam.
Heute ist die Restaurierungsauffassung eine andere, und aus den Künstlern, Sammlern und Handwerkern, die sich früher um die Erhaltung von Denkmälern und Kunstwerken bemühten, ist seit rund dreißig Jahren der eigenständige und weitgehend akademisierte Berufszweig der Restauratoren hervorgegangen. Diese setzen sich in unterschiedlichen Fachgebieten dafür ein, dass das historische Objekt in seinem überlieferten authentischen Bestand und Kontext größte Wertschätzung erfährt und substanzerhaltende Maßnahmen stets Vorrang vor interpretierenden haben. So verbietet es heute die Berufsehre, historische und objektfremde Teile zur Wiederherstellung eines Exponats zu verwenden. Nach einer zeitgemäßen Restaurierung würde der Glaspokal vermutlich auf einem neuen, gestalterisch zurückhaltenden und als Ergänzung erkennbaren Fuß aus Glas oder einer formneutralen Stütze aus transparentem Kunststoff stehen. In den frühen Bestand des 1908 in der Hauptstraße eröffneten Kurpfälzischen Museums der Stadt Heidelberg wurde der Deckelpokal allerdings bereits mit seinem metallenen Ersatzfuß übernommen. Offenbar wurde die Reparatur des 19. Jahrhunderts bereits damals als authentisches Merkmal gesehen, so dass kein Restaurator eine Rückführung des Pokals in seine Einzelteile unternahm. Heute kommt dem Pokal besonders hohe Wertschätzung zu, gerade weil er eine historische Restaurierungsauffassung und damit den Wandel eines Berufsstandes dokumentiert. In seiner einmaligen Ausprägung wird er auch für die Zukunft zu bewahren sein.

Text: Carl Ludwig Fuchs, Annina Seele

Literatur:
Erich Meyer-Heisig: Der Nürnberger Glasschnitt des 17. Jahrhunderts. Verlag Nürnberger Presse, Nürnberg (1963) S. 18 - 25.
John Ruskin: Die sieben Leuchter der Baukunst (1904), zitiert nach Katrin Janis: Restaurierungsethik im Kontext von Wissenschaft und Praxis. Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München (2005).
Ralf Buchholz, Hannes Homann (Hg.): Ein Berufsbild im Wandel, Restaurieren heißt nicht wieder neu machen. Ausstellungskatalog. Hannover (1994) S. 8 - 11
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Deckelpokal mit Wappen und Portrait des Johann Caspar von Ampringen, Hochmeister des deutschen Ordens zu Mergentheim. Glas geblasen und geschliffen, Nürnberg 1665; Fuß deutsch um 1850, Kupfer und Messing versilbert. Nach Verlust des originalen Glasfußes wurde der Fuß im 19. Jh. aus einem gotischen Kelchfuß und einem barocken Degengriff ergänzt.
Inv. Nr. Gl 8

Foto: Museum

 
 
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