Historismus - Eklektizismus
,,... und deren Werke heute die Kosten der angeblichen Erfindungen
unserer Künstler bestreiten, die sich immer wieder über
die Schätze des Kupferstichkabinetts beugen, um dadurch
mit etwas Neuem aufzuwarten, dass sie geschickte Nachahmungen
liefern." Honoré de Balzac, Œuvres complètes,
Paris,1842-1848 (Ins Deutsche übertragen von Ernst Wiegand
Junker, bearbeitet von Ernst Sander. Die Menschliche Komödie,
12 Bände, Taschenbuchausgabe. Berlin 1998, Band VIII, Seite
18
Die industrielle Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts ermöglichte
die Massenproduktion von Dekorationsgegenständen und ihre
Verbreitung in jede Inneneinrichtung. Das Bürgertum zeigt
nun sein frisch erworbenes Vermögen und nimmt dabei Bezug
auf die Stilrichtungen der Vergangenheit. Wir urteilen heutzutage
streng über den Eklektizismus in der Dekoration der damaligen
Zeit. Dabei haben sich vom Mittelalter bis zum Neoklassizismus
alle Generationen von Produktionen aus der Vergangenheit inspirieren
lassen. Die Neuerung im Historismus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts besteht darin, dass die Stilrichtungen gemischt
werden und es bis zur Entstehung des Jugendstils praktisch überhaupt
keine Neuschöpfungen gibt.
Die Professionalisierung der Berufe des Archäologen und
des Restaurators bringt es mit sich, dass die Eigenschaften,
Materialien und Techniken der antiken und der mittelalterlichen
Kunst besser bekannt werden. Diese Rückkehr zum Ursprung
filhrt, nachdem man sich um die Wende zum 19. Jahrhundert an
der Antike orientiert hatte, zur Entstehung der Neogotik in der
Architektur und in der Dekoration zwischen 1830 und 1840. Nach
1850 bevorzugen die meisten Auftraggeber klassische Formen von
der Renaissance bis zum Louis-seize.
Die in dieser Zeit produzierten Tapeten imitieren Holztäfelungen,
steinerne Verzierungen und applizierte Textilien. Großflächige
Dekore (wie in der Ausstellung im 2. OG des Museums zu sehen)
erwecken das Ambiente einer ganzen Epoche zum Leben, von der
Renaissance bis zum Neoklassizismus. Die Zeichner schöpfen
ihre Ideen aus Sammlungen von Kupferstichen und aus Ornamentsverzeichnissen,
die wahre ,,Datenbanken" darstellen und nach Genres geordnet
sind. Das am meisten benutzte ist die Grammar of Ornament, die
der englische Architekt und Zeichner Owen Jones 1856 veröffentlicht.
Diese Art Katalog mit Dekorationsmotiven existiert seit dem 16.
Jahrhundert und stößt im 19. Jahrhundert wieder verstärkt
auf Interesse; der Druck der Motive wird einfacher durch die
Anwendung der Lithografie, ab den 1880er Jahren durch die Fotografie.
Meistens scheuen sich die Zeichner nicht, mehrere Modelle miteinander
zu kombinieren. Sie streben nicht nach treuer Wiedergabe einer
bestimmten historischen Epoche, sondern nach harmonischer Gestaltung
des Gesamtwerks. Man muss sich einen ganzen Salon mit braunen
oder bordeauxfarbenen Mustern tapeziert vorstellen, um sich den
Geschmack des Zweiten Kaiserreichs mit seiner Vorliebe fiir dekorative Überfrachtung
vor Augen zu führen. Einige Paneele, die Imitationen von
Steinornamenten mit Blumengirlanden, Blumensträußen
oder auch Landschaften verbinden, lockern den Eindruck des Erdrücktwerdens
etwas auf, den diese All-over-Muster erzeugt haben müssen.
Blumen
Die Darstellung von Blumen, Gärten und Pflanzen auf Wanddekorationen
ist eine alte Tradition, die aber im Zweiten Kaiserreich besonders
ausgeprägt zur Ehre kommt. In Paris lässt Napoleon
III. große Parks und kleine Grünanlagen in allen Wohnvierteln
anlegen, um Licht und Luft in die Stadt zu bringen. Der Adel
und das Großbürgertum kultivieren in ihren Wintergärten
exotische Baumarten und die neuesten Blumensorten, die die Gärtner
gezüchtet haben.
Die Tapetenmanufakturen produzieren Pflanzenmotive in großer
Zahl, um der Nachfrage durch das Bürgertum gerecht zu werden,
das die Nachbildung von Pergolen an den Wänden haben möchte.
Sie bieten ganze Ensembles an - wie in dieser Abteilung einige
Elemente aus dem Wintergarten - die Friese am oberen und unteren
Rand der Wand umfassen, seitliche Pfosten und Accessoires (Vasen,
Statuen) sowie Paneele, die ein Glashaus imitieren und von den
anderen Elementen umgeben werden.
Die Blumen können aber auch mit Ornamenten aus Steinimitat
kombiniert werden und als Strauß, Girlande oder um ein
Rankgitter geschlungen arrangiert sein.
Die Zeichner nehmen sich die Natur zum Vorbild, zeichnen aber
auch nach den Stichen alter Meister.
Die holländischen Maler des 17. und 18. Jahrhunderts, besonders
berühmt flir ihre naturalistischen Darstellungen, liefern
zahlreiche Vorlagen. Im Zweiten Kaiserreich schätzt man
vor allem üppige Blumen in voller Blüte: Pfingstrosen,
Rosen, Glyzinien, Flieder, Hyazinthen, Tulpen, Schwertlilien,
Lilien usw. Sie werden im Höhepunkt ihrer Blüte gemalt
und in ihrer ganzen Pracht wiedergegeben.
Vor allem die Rose ist bei den Kunden beliebt und wird zum häufigsten
Tapetenmotiv nach 1850. Diese Blume wird seit Anfang des 19.
Jahrhunderts häufig gekreuzt, sodass zahlreiche Sorten in
verschiedenen Farben und Formen entstehen.
Nach der Entwicklung der synthetischen Druckfarben im Jahr l
856 erweitert sich die Farbpalette ganz erheblich, wodurch es
möglich wird, die Pflanze erstaunlich wirklichkeitsgetreu
darzustellen. Diese Produkte zeugen von der hohen technischen
Perfektion, die die Tapetenindustrie erreicht hat. Dem Kunsthandwerker
gelingt es meisterhaft, den Schatten in der Vertiefung eines
Blütenblatts darzustellen, den Farbverlauf des Blattwerks
und die körnige Struktur des Fruchtknotens. Die Erschaffung
eines Rosenmotivs beispielsweise erfordert oftmals etwa zwanzig
verschiedene Farben und damit ebenso viele Holzmodel oder Walzen.
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