Mit der Wanderausstellung «Verdingkinder reden» öffnet
das Historische und Völkerkundemuseum St.Gallen (HVM) am
24. November erneut ein Fenster in die Sozialgeschichte. Im Zentrum
stehen Hördokumente von Betroffenen. Ein reichhaltiges Veranstaltungsprogramm
bietet vertiefende Begegnungen mit Menschen und Institutionen
aus der Region.
Das Thema «Verdingkinder» wie auch die Schicksale
von Heimkindern sind in den letzten Jahren Gegenstand einer breiteren
Diskussion geworden. Das HVM will diese Diskussion auch in Stadt
und Region St.Gallen fördern. Die Wanderausstellung «Verdingkinder
reden – Fremdplatzierungen damals und heute» des
Vereins «Geraubte Kindheit» bietet dazu den geeigneten
Rahmen. Sie wurde 2009 in Bern eröffnet und war bisher in
acht Schweizer Städten zu Gast. Über 85’000 Personen,
davon etwa 650 Schulklassen, haben sie bereits besucht.
Eine Stimme geben
Die Ausstellung lässt ehemalige Verding- und Heimkinder
in persönlichen Berichten zu Wort kommen und will so ein
Kapitel der Schweizer Geschichte vor dem Vergessen bewahren.
Im Zentrum stehen Hördokumente. Sie wurden aus 300 Interviews
ausgewählt, die im Rahmen von zwei Forschungsprojekten in
der Romandie und in der Deutschschweiz geführt wurden. Betroffene
berichten über ihr Leben und den Umgang mit ihren Erinnerungen.
Historisch decken sie die Jahre 1920–1960 ab. Die Ausstellung
klagt nicht an. Sie gibt den persönlichen Berichten Raum.
Als Besucher begegnet man diesen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
nicht sofort: Man kommt ihnen in mehreren Schritten allmählich
näher, in einer vielschichtig und ansprechend inszenierten
Ausstellung, die einen in die Welt dieser Verding- und Heimkinder
mitnimmt. Dies entspricht auch dem schrittweisen Entdecken eines
tabuisierten Teils unserer Geschichte – und eines oft verdrängten
Abschnitts im Leben der Betroffenen. Die Beschäftigung mit
dem Thema erfordert von den Besuchenden eine gewisse Bereitschaft,
sich auf die Menschen und ihre Geschichten einzulassen. Je länger
man es tut, umso schärfer werden die Konturen.
Sensibilisieren für heute
Ziel der Ausstellung «Verdingkinder reden» ist es
nicht, die Geschichte der ausserfamiliären Erziehung und
des Pflegekinderwesens abschliessend darzustellen. Vielmehr besteht
die Absicht, die öffentliche Aufmerksamkeit auf dieses Thema
zu lenken, das lange tabu war. Deshalb sind in der Ausstellung
vor allem jene Stimmen präsent, die die Art der Missstände
und das Ausmass des erlittenen Leids bewusst machen, obwohl es
auch Verding- und Heimkinder gab, die ihre Kindheit als glücklich
beschreiben. Die Geschichte der Fremdplatzierung von Kindern
in der Schweiz soll hier samt ihren dunklen Seiten diskutiert
werden – das entspricht nicht nur dem Wunsch der Betroffenen,
sondern auch der Hoffnung, dass diese Diskussion dafür sensibilisiert,
sich auch heute und in Zukunft für das Wohl jener Kinder
einzusetzen, die ausserhalb ihrer Familie aufwachsen. Zudem wäre
eine weiterführende wissenschaftliche Aufarbeitung dieses
Themas im 19. und 20. Jahrhundert wünschenswert.
Vertiefendes Rahmenprogramm
Als «St.Galler Fenster» in die Thematik bietet das
HVM ein reichhaltiges Begleitprogramm, das vertiefende Begegnungen
mit Menschen und Institutionen aus unserer Region ermöglicht.
Den Auftakt macht die Vernissage vom 23. November, an der SP-Ständerat
Paul Rechsteiner spricht. Am 29. November gibt es einen Abend
rund um die neu erschienene Publikation «Zwischen Sehnsucht
und Schande – Die Geschichte der Anna Maria Boxler 1884-1965»,
ein Stück Ostschweizer Sozialgeschichte von unten. Das Buch
von Lisbeth Herger und Heinz Looser hat Potenzial zum Klassiker.
Es folgt am 9. Januar 2013 ein Filmabend mit Autorengespräch
im Kinok in der Lokremise St.Gallen. «Lisa und Yvonne» erzählt
von einem ehemaligen Verdingkind und der Beziehung zu seiner
Tochter. Am 20. Januar heisst es «20 bittere Jugendjahre – Aufwachsen
ohne Zuhause». Urs Fritz vom Museum für Lebensgeschichten
in Speicher unterhält sich in einem «Erzählcafé» mit
der Zeitzeugin Margrith Walliser. Einen Monat später, am
17. Februar, stellt sich die Pflegekinder-Aktion St.Gallen vor.
Am 3. März findet ein grosses Podium statt, das sich mit
der Frage befasst: «Was bedeutet eine Heimbiografie im
Rucksack heute?» Ausgangspunkt ist das kürzlich erschienene
Buch «Kinderheim statt Kinderzimmer», in welchem
neun ehemalige Heimkinder aus ihrer Heimbiografie erzählen.
Es diskutieren Martin Klöti (St.Galler Regierungsrat), Patrick
Müller (Leiter Soziale Dienste St.Gallen), Daniel Schelling
(Leiter Kinder- und Jugendheim Bild, Altstätten) sowie Patricia
Andersen und Thomas Frick (ehemalige Heimkinder). Die Moderation
liegt bei Cornelia Kazis, Redaktorin von Radio DRS 1 und 2. Ein
weiterer Höhepunkt ist schliesslich am 22. März die
Abendveranstaltung mit dem Schriftsteller Arthur Honegger, dem
wohl bekanntesten ehemaligen Verdingkind der Schweiz.
Parallel zu diesen Veranstaltungen gibt es wiederum ein spezielles
Angebot an Führungen für Erwachsene, Kinder, Familien
und Schulklassen.
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