Projekt kulturer.be
27.10.22
(uniwie/idw) In Deutschlands Pflanzenwelt hat es in den letzten 100 Jahren deutlich mehr Verlierer als Gewinner gegeben. Während die Bestände vieler Arten geschrumpft sind, konnten einige ihre Vorkommen massiv ausweiten. Gewinne und Verluste sind also sehr ungleich verteilt. Das ist ein Indiz für einen großräumigen Verlust an Artenvielfalt, warnt ein internationales Forschungsteam mit Beteiligung von Stefan Dullinger von der Universität Wien in "Nature". Die deutschen Ergebnisse dürften größtenteils auf Österreich übertragbar sein.
Das Phänomen klingt paradox: Weltweit schrumpft die Artenvielfalt in alarmierendem Tempo. Doch auf lokaler Ebene können viele Studien keinen großen Verlust an Tier- und Pflanzenarten feststellen. Das schließt aber bedenkliche Entwicklungen nicht aus, denn es kommt auch darauf an, um welche Arten es sich handelt. Werden beispielsweise in einem Moor oder auf einer Magerwiese die speziell angepassten Überlebenskünstler von weit verbreiteten Arten verdrängt, bleibt die Zahl der Arten in der Bilanz häufig gleich. Trotzdem geht damit ein Stück Vielfalt verloren, weil sich die einst sehr unterschiedliche Vegetation verschiedener Lebensräume immer ähnlicher wird.
Gewinne konzentrieren sich auf relativ wenige Arten
Die Wissenschafter*innen haben untersucht, wie stark dieser Trend in Deutschland ist. Die Analyse der Daten zeigt bei 1.011 der untersuchten Arten einen negativen und bei 719 einen positiven Bestandstrend. Es gab in den letzten einhundert Jahren also 41 Prozent mehr Verlierer als Gewinner. Das Team hat die Gewinne und Verluste außerdem mithilfe des so genannten Gini-Koeffizienten analysiert, mit dem man normalerweise die Verteilung von Einkommen und Eigentum untersucht. Dieser Index zeigt zum Beispiel, dass in einigen Ländern der Erde die wenigen Reichen immer reicher und dafür viele Arme immer ärmer werden. Und einen ganz ähnlichen Trend gibt es auch in Deutschlands Pflanzenwelt: "Die Verluste sind gleichmäßiger auf viele Verlierer verteilt, während sich die Gewinne auf weniger Gewinner unter den Arten konzentrieren. Das war ein überraschendes Ergebnis", erklärt Dullinger.
Zu den Gewinnern gehören zum Beispiel die Spätblühende Traubenkirsche und die Roteiche. Beide stammen aus Nordamerika, haben inzwischen aber auch viele Wälder in Deutschland erobert. Auch die frostempfindliche Europäische Stechpalme hat im Zuge des Klimawandels immer mehr Terrain gewonnen. Im großen Lager der Verlierer finden sich dagegen viele Ackerwildkräuter wie die Kornblume, Wiesenbewohner wie die Acker-Witwenblume und Feuchtgebietsarten wie der Teufelsabbiss.
Das stärkste Ungleichgewicht zwischen Gewinnen und Verlusten gab es der Studie zufolge zwischen Ende der 1960er Jahre und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. "Eingeläutet wurde diese Phase durch die starke Intensivierung der Landnutzung", erklärt Dullinger: "Inzwischen aber zeigen sich auch die Erfolge von Naturschutzmaßnahmen, so dass sich der Trend etwas abgeschwächt hat."
Ähnliche Entwicklung in Österreich
Ob diese Analyse auch für andere Regionen der Erde gilt, weiß bisher niemand. "In weiten Teilen Österreichs ist aber mit einer ähnlichen Entwicklung in den letzten hundert Jahren zu rechnen", meint Dullinger. Das Team plädiert dafür, ähnliche Datensätze aus aller Welt zu sammeln und auszuwerten. Denn die ungleichmäßige Verteilung von Gewinnen und Verlusten kann ein frühes Warnzeichen für einen Wandel der biologischen Vielfalt sein, der letztendlich zum Aussterben von Arten führt.
Informationen über insgesamt fast 1.800 Pflanzenarten
Zahlreiche Fachleute haben dafür eine Fülle von lokalen Studien zusammengetragen und Daten von mehr als 7.700 Flächen zur Verfügung gestellt, deren Pflanzenbestand zwischen 1927 und 2020 mehrfach erfasst wurde. Diese bisher zum Teil unveröffentlichten Untersuchungen decken eine breite Palette an Lebensräumen ab und liefern Informationen über insgesamt fast 1.800 Pflanzenarten. Solche Zeitreihen liefern sehr wertvolle Informationen, denn auf den oft nur zehn oder zwanzig Quadratmeter großen Flächen könne die botanische Volkszählung sehr genau erfolgen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Pflanzen dort unbemerkt verschwinden oder neu auftauchen, ist also gering.
Alexandra Frey Öffentlichkeitsarbeit
Universität Wien
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