Zurück zur Klassik


 
 

Mit der umfangreichen Antikenausstellung „Zurück zur Klassik“ öffnet die Liebieghaus Skulpturensammlung vom 8. Februar bis 26. Mai 2013 einen neuen Blick auf das alte Griechenland. Anhand von rund 80 herausragenden Werken, darunter Bronzeskulpturen, Vasen, Malereien, Terrakotten sowie bemalte, figürliche Gefäße bietet das groß angelegte Ausstellungs- und Forschungsprojekt einen neuen Zugang zur Kunst- und Kulturgeschichte der griechischen Klassik im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus. Zusammen mit eigens für die Ausstellung entwickelten Rekonstruktionen führen die Arbeiten den ungeheuren ästhetischen und intellektuellen Innovationsschub jener Zeit vor Augen.

Statue eines Faustkämpfers, aus Rom (Quirinal), Bronze, 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. oder 3. Jh. v. Chr.Bild: Statue eines Faustkämpfers, aus Rom (Quirinal), Bronze, 2. Hälfte des 4. Jh. v. Chr. oder 3. Jh. v. Chr.
Bronze
Museo Nazionale Romano, Rom
Foto: akg-images / Jürgen Raible

Von der griechischen Klassik geht eine außerordentliche Wirkung auf die europäische Kultur aus, gilt sie bis heute als Grundlage einer gemeinsamen europäischen Werte- und Kulturgemeinschaft. Die Wahrnehmung dieser bereits über 2500 Jahre zurückliegenden Epoche ist jedoch stark eingeschränkt und vielfach verfremdet: Nicht nur ist ein bedeutender Teil der originalen Kunstwerke und des Schrifttums unwiederbringlich verloren, überdies verstellen römische Kopien und die wiederholte klassizistische Rezeption oftmals den Blick auf das Erhaltene.

Zur Frankfurter Ausstellung bieten originale Meisterwerke der griechischen Bronzeplastik und Malerei – darunter spektakuläre Neufunde aus Porticello und Brindisi – ein anderes, unverfälschtes Bild der klassischen Kunst. Neben zahlreichen Leihgaben aus internationalen Sammlungen, u. a. in Berlin, London, New York, Paris, Rom und St. Petersburg, lassen die unter Berücksichtigung neuester wissenschaftlicher und technologischer Aspekte entwickelten Rekonstruktionen eines Riace-Kriegers sowie des Jagdfreskos von Vergina das ursprüngliche Aussehen weltberühmter Originale wiedererstehen. Zur Ausstellung erscheint ein umfassender Katalog, der einen differenzierten Überblick der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur griechischen Klassik bietet.

Die griechische Kunst der sogenannten klassischen Zeit entwickelte ein völlig neues Menschenbild.
Insbesondere die ersten 50 Jahre dieser Phase dürfen als außerordentlich avantgardistisch gelten, weshalb für diese relativ kurze Zeitspanne zwischen dem Ende der Perserkriege (480/79 v. Chr.) bis zum Ausbruch des Peloponnesischen Krieges (431 v. Chr.) bereits in der antiken Literatur ein eigener Begriff geprägt wurde: Pentekontaetie. Die Maler und Bildhauer dieser Epoche erreichten in wenigen Generationen eine gänzlich neue Sicht auf den Menschen. Auch die Spiegelung irdischer Konflikte und lebensweltlicher Zusammenhänge in die Sphäre des Göttlichen erfuhr hier eine nachhaltige Ausformung. In später nie wieder erreichter Differenzierung und intellektueller Dialektik wird der Mensch ins Bild gesetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit werden das Auge und die Stimmung des Betrachters vollständig gefangen genommen. Die Figur bewegt sich frei im Raum, die Maler entwickelten den gänzlichen Satz der illusionistischen Stilmittel. Bis zur italienischen Renaissance sollte dieser Grad an Raffinesse und innere Spannung nicht wieder erreicht werden.

Kopf des Apollon Sauroktonos des Praxiteles, aus derSammlung Chigi, späthellenistische Kopie (vor der Mitte des 1. Jhds v. Chr.) nach einem Vorbild um 350 v. Chr. MarmorKopf des Apollon Sauroktonos des Praxiteles, aus derSammlung Chigi, späthellenistische Kopie (vor der Mitte des 1. Jhds v. Chr.) nach einem Vorbild um 350 v. Chr. Marmor
Staatliche Kunstsammlungen, Skulpturensammlung, Dresden
Foto: H.-P. Klut / E. Estel
© Staatliche Kunstsammlungen, Skulpturensammlung, Dresden

Der heutige Blick auf das klassische Griechenland des 5. Jh. v. Chr. ist verstellt durch die verschiedenen Stufen und Phasen der Deutung und der vermeintlichen Aneignung des „Klassischen“: Der kulturpropagandistische Kampf des perikleischen Zeitalters, aber auch die zahlreichen folgenden, zum Teil verheerenden Selektionen in Klassizismen, christlich-ethischen oder bürgerlich-moralischen Überformungen sowie zahlreiche Kopien haben das Bild der Klassik verfälscht. Besonders tragisch ist in diesem Zusammenhang auch der enorme Verlust originaler klassischer Werke durch natürlichen Verfall wie auch durch mutwillige Zerstörung.

Es ist als eine Befreiung von dieser Sicht auf das 5. Jh. und auch das 4. Jh. v. Chr. zu werten, dass in den letzten 40 Jahren originale Bronzeskulpturen von unerhörter Schönheit und formaler Kraft aus den Meeren geborgen werden konnten. Arbeiten wie das „Porträt eines Philosophen“ aus Süditalien oder der „Kopf eines Afrikaners“ aus der Kyrenaika geben in der Ausstellung einen Eindruck von der Virtuosität der „wahren“ bzw. „echten“ Klassik. Das Ziel der Frankfurter Ausstellung ist es, die Klassik aus ihren Deutungen und Verunklärungen zu lösen und so den Zugang zur „anderen“ Klassik im gesamten Zusammenhang freizulegen. Neben einer Vermittlung grundlegender Einsichten in die Formgebung und Wirkung originaler Bronzeplastik und Malerei der griechischen Klassik möchte die Ausstellung über ideologisch und ästhetisch bedingte Perspektiven aufklären und so einen Beitrag leisten zu einem Verständnis der klassischen Epoche, die dieser Kultur in ihren Zeugnissen und Äußerungen gerecht wird.

Die Struktur der Ausstellung basiert auf zwei zentralen Aspekten. Ausgehend von der Gegenwart durchläuft der Besucher im ersten Teil eine Zeitreise durch die verschiedensten Klassizismen, indem er immer weiter zum eigentlichen Kern der Klassik ins 4. und 5. Jh. v. Chr. vordringt. Dieser erste Abschnitt ist als begehbare Wandzeitung mit Texten, Bildern und Zitaten konzipiert und wird durch Objekte und Kunstwerke der verschiedenen Epochen strukturiert.

Im Mittelpunkt des zweiten Themenkomplexes steht die Präsentation spektakulärer Neufunde, anhand derer die Ausdruckskraft originaler klassischer Werke erlebbar wird. Der Fokus liegt hierbei hauptsächlich auf der originalen griechischen Bronzeplastik in ihrer außerordentlichen formalen und erzählerischen Vielfältigkeit, darunter Höhepunkte wie der „Faustkämpfer vom Quirinal“ und das bronzene „Kapitolinische Pferd“ aus Rom. Die Marmorskulpturen, insbesondere die nachklassischen antiken Kopien, werden in einem räumlich separierten Teil der Ausstellung aus der nachklassischen Zeit gezeigt, sodass schon die ersten Schritte hin zu einer Verfremdung von Originalen nachvollziehbar werden. Am Beispiel der berühmten Sauroktonos-Statue des Praxiteles wird dieser Prozess besonders anschaulich.

Neben der griechischen Bronzeplastik versucht die Antikenausstellung, die Einzigartigkeit der klassischen Malerei sichtbar zu machen. In den vergangenen vier Jahrzehnten sind zahlreiche Wandmalereien in makedonischen Gräbern entdeckt worden, die einen ungetrübten Blick auf originale griechische Malerei eröffnen. Für die Frankfurter Ausstellung wurde darum in Kooperation mit griechischen Wissenschaftlern der Aristoteles-Universität in Thessaloniki eine präzise restauratorische Rekonstruktion eines Jagdfrieses von der Grabfassade des sogenannten Philippsgrabs in Vergina (um 320 v. Chr.) angefertigt. Gemeinsam mit ebenfalls in der Ausstellung präsentierten qualitätvollen Gemälden auf großformatigen Grabgefäßen verdeutlicht das Jagdfries eindrucksvoll die künstlerische und intellektuelle Raffinesse dieser Malerei – der in der Antike am höchsten geschätzten Kunstgattung.

Partielle Rekonstruktion des Bronzekriegers A aus Riace (Kalabrien). Bronzeguss nach einem hochauflösenden Scan des OriginalsPartielle Rekonstruktion des Bronzekriegers A aus Riace (Kalabrien). Bronzeguss nach einem hochauflösenden Scan des Originals
Bronze, farbige Steine, Kupfer, Silber, Asphaltlack. Foto: Norbert Miguletz
© Liebieghaus Skulpturensammlung

Seit der Auffindung der Riace-Bronzen 1972 vor der Küste Kalabriens wurden mehrere breit angelegte technisch-wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, die bemerkenswerte Erkenntnisse zu den antiken Arbeitstechniken erbracht haben. Diese sind in die aufwendigen Rekonstruktionen des Liebieghauses eingeflossen. Auch im Bereich der Bronzeplastik stellen die aufwendigen Rekonstruktionen einen wichtigen Aspekt des Ausstellungskonzepts dar. Im Zuge eines wissenschaftlichen Experiments zu den komplexen Verfahren des antiken Bronzegusses ist im Vorfeld der Ausstellung und auf Basis eines digitalen Feinscans ein authentischer Nachguss vom Kopf eines Kriegers entstanden. Die Rekonstruktion der berühmten Statue des Riace-Kriegers A (460–450 v. Chr., Museo Archeologico Nazionale di Reggio Calabria) führt das ursprüngliche Aussehen der Großbronze ebenso deutlich vor Augen wie die technischen Aspekte ihrer Herstellung. Das von Edilberto Formigli, Spezialist für antike griechische Bronzetechnologie, durchgeführte archäologische Experiment umfasst insbesondere die Ergänzung der fehlenden Eingelearbeiten wie die Augen oder Zähne des Kriegers sowie die Wiedergewinnung der künstlichen Patina.

Die Konzeption der von Vinzenz Brinkmann kuratierten Ausstellung wurde von einem auserlesenen wissenschaftlichen Komitee begleitet. Mitglieder sind Salvatore Settis, ehemaliger Direktor der Scuola Normale Superiore di Pisa, Hans-Joachim Gehrke, ehemaliger Präsident des Deutschen Archäologischen Instituts, Oliver Primavesi, Leibnizpreisträger und Wiederentdecker der Philosophie des 5. Jh. v. Chr., Claudio Parisi Presicce, Direktor der Kapitolinischen Museen, sowie Wulf Raeck, Ausgräber des klassischen Priene. Sie alle haben zusammen mit ihren Schülern bedeutende Forschungsarbeiten im Themenfeld des Projekts geleistet. In ihren Beiträgen zu dem umfassenden Katalog der Ausstellung präsentieren sie die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den Bereichen Archäologie, Alte Geschichte und Klassische Philologie.

Pier Jacopo Alari Bonacolsi, gen. Antico (um 1460–1528), Apoll vom Belvedere, Mantua, 1497/1498. Teilvergoldete Bronze, Augen in Silber eingelegt,Pier Jacopo Alari Bonacolsi, gen. Antico (um 1460–1528), Apoll vom Belvedere, Mantua, 1497/1498. Teilvergoldete Bronze, Augen in Silber eingelegt, bez. am
Köcher: ANT, H 41,3 cm
Frankfurt am Main, Liebieghaus Skulpturensammlung

Kurator: Prof. Dr. Vinzenz Brinkmann (Liebieghaus Skulpturensammlung)
Wissenschaftliche Mitarbeit und Projektleitung: Salvatore Mancuso

Katalog: Zur Ausstellung erscheint ein umfangreicher Katalog im Hirmer Verlag, herausgegeben von Vinzenz Brinkmann, mit Beiträgen von E. Formigli, H.-J. Gehrke, C. Parisi Presicce, O. Primavesi, W. Raeck, S. Settis und A. Stewart. Dt. Ausgabe, ca. 380 Seiten, ca. 550 Abbildungen, 39,80 € (Museumsausgabe).
Weitere Publikationen: Zur Ausstellung erscheint ein Begleitheft (ab 12 Jahren), 7,50 Euro.
Audiotour: Durch die Ausstellung führt eine Audiotour (deutsch), 4 Euro.
Öffentliche Führung in der Ausstellung: mittwochs 19.30 Uhr, samstags 16.00 Uhr, sonntags 15.00 Uhr
 
Ort: Liebieghaus Skulpturensammlung, Schaumainkai 71, 60596 Frankfurt am Main
Öffnungszeiten: Di, Fr–So 10.00–18.00 Uhr, Mi und Do 10.00–21.00 Uhr, Montag geschlossen
Information: www.liebieghaus.de, info@liebieghaus.de, Telefon: +49(0)69-650049-0
Eintritt: 9 Euro, ermäßigt 7 Euro, Familienticket 16 Euro, freier Eintritt für Kinder bis 12 Jahre

Attische Statuette des Papposilen mit Dionysosknaben, aus der Sammlung Furtwängler,
Attische Statuette des Papposilen mit Dionysosknaben, aus der Sammlung Furtwängler, frühes 4. Jahrhundert v. Chr. Terrakotta, H 11,1 cm, aus vielen Fragmenten zusammengesetzt; hergestellt aus mehreren Matrizen; teilweise durch Brand geschwärzt.
Liebieghaus Skulpturensammlung, Frankfurt am Main

Statuette eines Philosophen, spätes 2. Jh. v. Chr. oder 1. Jh. v. Chr
Statuette eines Philosophen, spätes 2. Jh. v. Chr. oder 1. Jh. v. Chr. Bronze, The Metropolitan Museum of Art, New York. Foto: Norbert Miguletz

     

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