Kurpfälzisches Museum Heidelberg:

Das Kunstwerk des Monats

Oktober 2003
  - Sammlungsblatt -

Die Dossenheimerin und ihre Grabbeigaben

Bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. berichtet Hippokrates in seiner Schrift "Über Luft, Wasser und Orte" von den "Makrokephalen" (sinngemäß mit "künstliche Langköpfe" zu übersetzen) am Mäotischen Meer (Asowsches Meer), die bei ihren Neugeborenen durch Drücken mit den Händen und Anlegen von Binden die rundliche Form des Kopfes veränderten und seine Länge vergrößerten. Bei ihnen galten nämlich diese langköpfigen Menschen als die "edelsten".

Bei der künstlichen Kopfumformung, die nur im frühesten Kindesalter am noch plastischen Schädel möglich ist, lassen sich verschiedene Techniken und daraus resultierende Deformationstypen unterscheiden. Die bei Hippokrates überlieferte Bandagierung führt zu flachen oder hohen, nach hinten ausgezogenen Hirnschädeln von konischer oder zylindrischer Form und bewirkt eine turmartige Verlängerung des Kopfes und den Eindruck einer hohen Stirn.
Die Sitte solcher Schädeldeformationen geht auf eine mongolische Gruppe in Zentralasien zurück und wurde im 5. Jahrhundert n.Chr. von den Hunnen nach Mitteleuropa eingeführt. Zur Zeit des Hunnenkönigs Attila, in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts, breitete sich dieser Brauch im ungarisch-slowakischen Donaugebiet unter den dortigen ostgermanischen Stämmen aus - dies wohl ein Zeichen für die Übernahme gewisser nomadischer Sitten durch die zu den Hunnen in politischer Abhängigkeit stehenden Germanen. Im fortgeschrittenen 5. Jahrhundert verbreitet sich die Sitte unter den mit den Hunnen verbündeten Völkern, wobei solche Schädel bei den Thüringern, Burgundern und Alamannen nur bei weiblichen Individuen zu finden sind. Nach Abzug der Hunnen aus Mittel- und Osteuropa wurde der Brauch aufgegeben und nur alt gewordene Personen mit künstlich deformiertem Schädel erlebten noch den Beginn des 6. Jahrhunderts. Heute gilt dieser Brauch als auffälligstes Zeugnis für die Kontakte der Germanen mit der hunnischen Welt und steht für Leute, die aus dem Osten kamen. Dieses Schönheitsideal ist gleichzeitig eine bewusste ethnische oder soziale Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen. Auch heute noch ist es ja üblich, Gruppenzugehörigkeit auch durch das äußere Erscheinungsbild zum Ausdruck zu bringen. Die künstliche Verformung des Schädels durch optische Verlängerung der Stirn signalisierte also zugleich die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.
Auch jene Franken, die im 6. Jahrhundert in Dossenheim lebten, kannten hunnische Sitten und Gebräuche. Deutlich außerhalb des fränkischen Ortsfriedhofes wurde dort in 1,9 m Tiefe eine nur 1,55 m große, etwa 70 Jahre alte Frau von grazilem Körperbau beigesetzt. Auch ihr Schädel war künstlich zu einer extremen Länge von mehr als 18 cm (gemessen von der Gegend über der Nasenwurzel bis zum entferntesten Punkt an der Hinterfläche) deformiert worden. So beginnt die Stirn bereits unmittelbar über den Augenhöhlen mit den nur sehr schwachen Augenbrauenwülsten zu fliehen. Die Stirn ist in rückwärtiger Richtung abgeflacht und abgeschrägt und damit optisch verlängert. Ihrem hohem Alter entsprechend besitzt die Dossenheimerin nur noch drei Zähne, alle anderen müssen ihr schon lange vor ihrem Ableben ausgefallen sein. Ihr Gewand wurde in der Taille von einem Lederriemen gehalten, von dem nur noch eine bronzene Gürtelschnalle erhalten blieb. An diesem Lederriemen hingen, wiederum an schmalen Riemen befestigt, ein kleines Eisenmesser und ein verzierter Spinnwirtel aus Bein. Zu ihren Füßen hatten die Hinterbliebenen in einem grauen Topf Speisen oder Getränke für die Reise ins Jenseits in den Grabschacht gestellt. Als einzigen Schmuck trug sie eine Halskette aus gelben Glasperlen.
Die Lage abseits des Ortsfriedhofes, besonders aber die ungewöhnliche Schädelform weisen die Verstorbene als Fremdling aus. Schon im Säuglingsalter war ihr Schädel durch Bandagen in die Höhe gepresst worden und das normale Wachstum nach vorn und oben damit gehemmt; so musste sich ihr Schädel nach hinten ausbeulen. Bis in ihr zwanzigstes Lebensjahr musste sie diese Prozedur über sich ergehen und die Stoffbinden immer wieder erneuern lassen. Erst dann war der Prozess des Längenwachstums abgeschlossen. Erstaunlicherweise hat eine solch beträchtliche Umgestaltung des Schädels keine Beeinträchtigung der Intelligenz und der Lebensdauer zur Folge. Das wachsende Gehirn passt sich den Gegebenheiten an, es kommt weder zu einer mechanischen Schädigung noch zu einer Mangelversorgung mit nachfolgender Schädigung.
Die in Dossenheim im für damalige Verhältnisse "biblischen Alter" von ca. 70 Jahren verstorbene Frau ist aufgrund der Datierung ihrer Grabbeigaben einer der spätesten Belege für eine solche Schädeldeformation. Geboren wohl im späten 5. Jahrhundert, galt sie zu ihren Lebzeiten für ihre Mitmenschen sicher als Sonderling. So bestatteten sie auch die Hinterbliebenen außerhalb des fränkischen Friedhofes. Sie fand allerdings Aufnahme in einer bäuerlichen Familie, in die sie vielleicht sogar eingeheiratet hatte. Nach ihrer Grabausstattung spielte sie jedoch keine herausragende Rolle innerhalb der Lebensgemeinschaft. Nichts unterscheidet sie darin von einer zeitgenössischen Fränkin. Bleibt ihre Herkunft und ihre Lebensgeschichte für uns heute auch im Dunkeln, so ist ihr auffälliger Schädel doch ein eindrucksvolles Indiz für die multikulturelle Gesellschaft der Völkerwanderungszeit, in der fremdartige Menschen mit anderen Sitten und Gebräuchen mit der jeweils einheimischen Bevölkerung in Kontakt traten und sich mit ihr vermischten.

.Text: Renate Ludwig

Literatur:
Berndmark Heukemes, Hermann Hoepke, Werner Kindler: Künstliche Schädelmissbildung ungewöhnlicher Art aus einem fränkischen Grabfund des 7. Jahrhunderts bei Heidelberg. Ruperto-Carola 19, 1956, 94ff.
Peter Schröter: Zur beabsichtigten künstlichen Kopfumformung im völkerwanderungszeitlichen Mitteleuropa. In: Hermann Dannheimer u. Heinz Dopsch (Hrsg.), Die Bajuwaren. Von Severin bisTassilo 488-788 (Rosenheim, Mattsee 1988) 258 ff.
 
siehe auch:  
 

Weiblicher deformierter Schädel, Knickwandtopf mit Rollrädchenverzierung,
Spinnwirtel aus Bein, Eisenmesser und bronzene Gürtelschnalle
gefunden: Dossenheim, Lorscher Weg/Alemannenweg (1955)
6. Jahrhundert n.Chr., Inv.-Nr.: RN-Dos 1991/6 a-f

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