Es handelt
sich dabei um ein vollständig erhaltenes Köpfchen und mehrere
anpassende Fragmente der beiden Arme. Alle Details sind sorgfältig
herausgearbeitet, die geglätteten Oberflächen erinnern an Elfenbein.
Das 4,2 cm hohe Köpfchen ist am Halsansatz abgebrochen. Es ist
innen hohl und aus einer zweiteiligen Form erstellt, deren Nahtstelle
deutlich sichtbar ist. Die Pausbacken und das volle Kinn verleihen
dem Gesicht kindliche Züge. Auf der Stirn ist das Haar gescheitelt,
und darüber sitzt ein Schöpf, um den ein Band oder ein Zopf geschlungen
ist. Seitlich rahmen dicke Locken das Antlitz, auf dem Hinterkopf
fällt das Haar in ungeordneten Strähnen herab. Beide Arme sind
angewinkelt und weisen nach vorne, die Hände fehlen. Die Gestaltung
legt nahe, dass es sich um Teile einer Gliederpuppe handelt, deren
ursprüngliche Höhe etwa 18 cm betrug. Die Gliedmaßen waren in
den nicht erhaltenen Schulterpartien durchlocht und mit Fäden
oder Metallstiften beweglich am Rumpf befestigt. Physiognomie
und Haartracht zeigen die Merkmale des knabenhaften Liebesgottes
Amor, der dem griechischen Eros entspricht und oft als Begleiter
seiner Mutter Venus (Aphrodite) gezeigt wird.
Anthropologen des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg analysierten
die Knochenreste aus dem Heidelberger Grab und kamen zu dem Ergebnis,
dass es sich bei der bestatteten Person um ein vier- bis sechsjähriges
Kind handelt, dessen Geschlecht nicht mehr festgestellt werden
konnte. Gemäß dem vorherrschenden Brauch der Zeit war der Leichnam
auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Die Eltern hatten dort
nicht nur das Lieblingsspielzeug platziert, sondern auch eine
große Anzahl üblicher Beigaben, darunter Öllampen, Weihrauchkelche,
Glasfläschchen, ein beinernes Döschen, ein Bronzegefäß sowie eine
Holzschatulle mit Bronzebeschlägen und einem Griff in Vogelgestalt.
Was nach der Einäscherung übrig blieb, wurde in der Grabgrube
deponiert und mit Erde bedeckt. Die Beigaben datieren in die erste
Hälfte des 2. Jahrhunderts und geben somit einen Anhaltspunkt
für den Zeitpunkt der Bestattung.
Es ist ein Glücksfall, dass das Feuer die Figur nicht völlig zerstörte,
denn von römischen Gliederpuppen sind nur äußerst wenige Exemplare
erhalten. Schon im 6. Jh. v. Chr. spielten im Mittelmeerraum Kinder
mit Gliederpuppen. Diese wurden vom Puppenbildner 'koroplästes'
(griech. köre: Mädchen oder Puppe; plässo: ich forme) anfangs
aus Ton geformt, bald schnitzte man sie auch aus Holz, Knochen
und Elfenbein oder fertigte sie aus Wachs und Edelmetall. Wie
in unserer Zeit stellten Puppen meist weibliche Personen dar wie
etwa Mädchen, Tänzerinnen oder Göttinnen, die meistens Hera oder
Aphrodite glichen. Seltener sind dagegen Figuren von Knaben, Soldaten
und Schauspielern.
Die Römer nannten die Puppenmacher 'figuli'. Diese machten ihr
größtes Geschäft beim Fest der 'Sigillaria' am 20. und 21. Dezember,
das sich an die 'Saturnalia', den römischen Karneval, anschloss
(Macrobius: Saturnalia l, 11,1). In dieser Zeit war es Brauch,
dass Eltern den Kindern, aber auch Erwachsene untereinander tönerne
Puppen (sigilla) zum Geschenk machten. Puppen in Göttergestalt
erfüllten nebenbei einen erzieherischen Zweck, indem sie das Kind
spielerisch mit religiösen Themen vertraut
machten. Gleichzeitig hatte die Götterfigur die Wirkung eines
schützenden Amuletts.
Die antiken Philosophen und Dichter nahmen das Spiel ernst: Platon
betonte dessen Bedeutung für die Entwicklung des Kindes (Politeia
IV 424-425) und der römische Dichter Sueton (ca. 70-140 n. Chr.)
hat den griechischen und römischen Kinderspielen sogar Bücher
gewidmet, die leider nicht überliefert sind.
Die Bestattungsriten der römischen Kaiserzeit waren mit der Beigabe
persönlicher Gegenstände äußerst zurückhaltend. Aus dem Gebiet
des Imperium Romanum war der Brauch der Puppenbeigabe bislang
nur durch sieben Beispiele belegt: Sie stammen aus Italien sowie
den gallischen und spanischen Provinzen und datieren in einen
Zeitraum von Mitte des 2. bis Anfang des 5. Jahrhunderts. Diese
Puppen sind aus Elfenbein gefertigt und bilden erwachsene Frauen
ab. Ausstattung und Lage dieser Gräber lassen jeweils auf einen
gehobenen sozialen Status der Familien schließen.
Welche Bedeutung hat das Vorkommen einer Puppe im Grab eines Kindes?
Wie so viele Dinge hatten die Römer auch diesen Brauch von den
Griechen übernommen. In griechischen Kindergräbern und Tempeln
sind Puppen häufiger vertreten, und Grabreliefs bilden gelegentlich
Mädchen mit ihrer Puppe ab. In beiden Kulturen opferte eine Braut
ihr Lieblingsspielzeug als Symbol der Kindheit im Tempel der Venus/
Aphrodite oder Diana/Artemis. Da römische Mädchen bereits im Alter
von zwölf Jahren als heiratsfähig galten, konnte es vorkommen,
dass die Braut noch kurz vor der Hochzeit mit ihrer Puppe gespielt
hatte. Als Grabbeigabe ist die Puppe demnach Symbol der Kindlichkeit,
Keuschheit und Ehelosigkeit eines Menschen, der zu früh ("ante
suum diem") aus dem Leben scheiden musste.
Der tönerne Amor aus dem Heidelberger Kindergrab spiegelt demnach
die Übernahme römisch-italischer Jenseitsvorstellungen durch die
Provinzbevölkerung wider. Es sei die Spekulation erlaubt, dass
unsere Figur als Pendant zu den Venuspuppen vielleicht das Spielzeug
eines Knaben war.
Der vorgestellte Fund gehört zu den besonderen Überraschungen,
die nun im Laufe der Bearbeitung der Fundkomplexe aus dem "Neuenheimer
Feld" ans Licht treten.
Text:
Andreas Hensen
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