Kunstwerk des Monats
Juli 2004
- Sammlungsblatt -

Die Spielpuppe eines römischen Kindes

Manchmal wird die Ausgrabung erst im Labor beendet: Bei der Untersuchung einer römischen Bestattung im Jahre 1965 war man auf ein Konglomerat von Erde und dünnen Blechfragmenten gestoßen, aus dem ein tönernes Objekt hervorragte.
Der Archäologe Berndmark Heukemes barg den Brocken in einer Schachtel und entschied, die vorsichtige Freilegung in der Werkstatt durchzuführen. Das geschah nun, fast vierzig Jahre später. Die Bearbeitung erfolgte im Rahmen eines Forschungsprojektes, das sich mit der wissenschaftlichen Auswertung der fast 1400 Bestattungen zählenden Nekropole "Im Neuen-heimer Feld" beschäftigt. Die Restauratoren der Archäologischen Abteilung des Museums lösten aus dem faustgroßen Erdklumpen Fragmente einer vollplastischen Figur aus feinem, weißem Ton mit grauen Brandflecken.

Es handelt sich dabei um ein vollständig erhaltenes Köpfchen und mehrere anpassende Fragmente der beiden Arme. Alle Details sind sorgfältig herausgearbeitet, die geglätteten Oberflächen erinnern an Elfenbein. Das 4,2 cm hohe Köpfchen ist am Halsansatz abgebrochen. Es ist innen hohl und aus einer zweiteiligen Form erstellt, deren Nahtstelle deutlich sichtbar ist. Die Pausbacken und das volle Kinn verleihen dem Gesicht kindliche Züge. Auf der Stirn ist das Haar gescheitelt, und darüber sitzt ein Schöpf, um den ein Band oder ein Zopf geschlungen ist. Seitlich rahmen dicke Locken das Antlitz, auf dem Hinterkopf fällt das Haar in ungeordneten Strähnen herab. Beide Arme sind angewinkelt und weisen nach vorne, die Hände fehlen. Die Gestaltung legt nahe, dass es sich um Teile einer Gliederpuppe handelt, deren ursprüngliche Höhe etwa 18 cm betrug. Die Gliedmaßen waren in den nicht erhaltenen Schulterpartien durchlocht und mit Fäden oder Metallstiften beweglich am Rumpf befestigt. Physiognomie und Haartracht zeigen die Merkmale des knabenhaften Liebesgottes Amor, der dem griechischen Eros entspricht und oft als Begleiter seiner Mutter Venus (Aphrodite) gezeigt wird.
Anthropologen des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg analysierten die Knochenreste aus dem Heidelberger Grab und kamen zu dem Ergebnis, dass es sich bei der bestatteten Person um ein vier- bis sechsjähriges Kind handelt, dessen Geschlecht nicht mehr festgestellt werden konnte. Gemäß dem vorherrschenden Brauch der Zeit war der Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Die Eltern hatten dort nicht nur das Lieblingsspielzeug platziert, sondern auch eine große Anzahl üblicher Beigaben, darunter Öllampen, Weihrauchkelche, Glasfläschchen, ein beinernes Döschen, ein Bronzegefäß sowie eine Holzschatulle mit Bronzebeschlägen und einem Griff in Vogelgestalt. Was nach der Einäscherung übrig blieb, wurde in der Grabgrube deponiert und mit Erde bedeckt. Die Beigaben datieren in die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts und geben somit einen Anhaltspunkt für den Zeitpunkt der Bestattung.
Es ist ein Glücksfall, dass das Feuer die Figur nicht völlig zerstörte, denn von römischen Gliederpuppen sind nur äußerst wenige Exemplare erhalten. Schon im 6. Jh. v. Chr. spielten im Mittelmeerraum Kinder mit Gliederpuppen. Diese wurden vom Puppenbildner 'koroplästes' (griech. köre: Mädchen oder Puppe; plässo: ich forme) anfangs aus Ton geformt, bald schnitzte man sie auch aus Holz, Knochen und Elfenbein oder fertigte sie aus Wachs und Edelmetall. Wie in unserer Zeit stellten Puppen meist weibliche Personen dar wie etwa Mädchen, Tänzerinnen oder Göttinnen, die meistens Hera oder Aphrodite glichen. Seltener sind dagegen Figuren von Knaben, Soldaten und Schauspielern.
Die Römer nannten die Puppenmacher 'figuli'. Diese machten ihr größtes Geschäft beim Fest der 'Sigillaria' am 20. und 21. Dezember, das sich an die 'Saturnalia', den römischen Karneval, anschloss (Macrobius: Saturnalia l, 11,1). In dieser Zeit war es Brauch, dass Eltern den Kindern, aber auch Erwachsene untereinander tönerne Puppen (sigilla) zum Geschenk machten. Puppen in Göttergestalt erfüllten nebenbei einen erzieherischen Zweck, indem sie das Kind spielerisch mit religiösen Themen vertraut
machten. Gleichzeitig hatte die Götterfigur die Wirkung eines schützenden Amuletts.
Die antiken Philosophen und Dichter nahmen das Spiel ernst: Platon betonte dessen Bedeutung für die Entwicklung des Kindes (Politeia IV 424-425) und der römische Dichter Sueton (ca. 70-140 n. Chr.) hat den griechischen und römischen Kinderspielen sogar Bücher gewidmet, die leider nicht überliefert sind.
Die Bestattungsriten der römischen Kaiserzeit waren mit der Beigabe persönlicher Gegenstände äußerst zurückhaltend. Aus dem Gebiet des Imperium Romanum war der Brauch der Puppenbeigabe bislang nur durch sieben Beispiele belegt: Sie stammen aus Italien sowie den gallischen und spanischen Provinzen und datieren in einen Zeitraum von Mitte des 2. bis Anfang des 5. Jahrhunderts. Diese Puppen sind aus Elfenbein gefertigt und bilden erwachsene Frauen ab. Ausstattung und Lage dieser Gräber lassen jeweils auf einen gehobenen sozialen Status der Familien schließen.
Welche Bedeutung hat das Vorkommen einer Puppe im Grab eines Kindes? Wie so viele Dinge hatten die Römer auch diesen Brauch von den Griechen übernommen. In griechischen Kindergräbern und Tempeln sind Puppen häufiger vertreten, und Grabreliefs bilden gelegentlich Mädchen mit ihrer Puppe ab. In beiden Kulturen opferte eine Braut ihr Lieblingsspielzeug als Symbol der Kindheit im Tempel der Venus/ Aphrodite oder Diana/Artemis. Da römische Mädchen bereits im Alter von zwölf Jahren als heiratsfähig galten, konnte es vorkommen, dass die Braut noch kurz vor der Hochzeit mit ihrer Puppe gespielt hatte. Als Grabbeigabe ist die Puppe demnach Symbol der Kindlichkeit, Keuschheit und Ehelosigkeit eines Menschen, der zu früh ("ante suum diem") aus dem Leben scheiden musste.
Der tönerne Amor aus dem Heidelberger Kindergrab spiegelt demnach die Übernahme römisch-italischer Jenseitsvorstellungen durch die Provinzbevölkerung wider. Es sei die Spekulation erlaubt, dass unsere Figur als Pendant zu den Venuspuppen vielleicht das Spielzeug eines Knaben war.
Der vorgestellte Fund gehört zu den besonderen Überraschungen, die nun im Laufe der Bearbeitung der Fundkomplexe aus dem "Neuenheimer Feld" ans Licht treten.

Text: Andreas Hensen

Gliederpuppe aus Ton.
Verbrannte Fragmente.
L. 2,9-4,2 cm.
100/150 n. Chr.
Römisches Gräberfeld Heidelberg-Neuenheim.
 

Literatur:
M. Andres, Die Antikensammlung. Griechische, Römische, Altorientalische Puppen und Verwandtes. Katalog des Hessischen Puppenmuseums Hanau-Wilhelmsbad (Hanau 2000).
M Fittä, Giochi e giocattoli nell'antichita (Mailand 1997).
S. Martin-Kilcher, Mors immatura in the Roman world - a mirror of society and tradition. In: J. Pearce (ed.) Burial, Society and Context in the Roman world (Oxford 2000) 63 ff.
A. Hensen, Gräberfeld im Campus. Archäologie in Deutschland 1/2003, 6 ff.

 
 
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