Februar 2004
- Sammlungsblatt -

Michael Hall *1962
Museumsseehund
Pappmaché, Bleistift, Farbtusche

Der Seehund schwimmt durch das Museum. Er hebt den runden Kopf, er reißt Augen und Mund auf. Er sieht sich Bilder an, die Leute auf den Bildern, die Leute, die vor den Bildern stehen und sich die Leute auf den Bildern ansehen...

Je mehr der Seehund sich ansieht, desto farbiger wird er. Sein Körper füllt sich mit Bildern, vielfältigen Details. Er hat alles um sich aufgesogen: Er ist sein eigenes Museum geworden und schwimmt davon.

 

Michael Hall, 1962 in Heidelberg geboren, nahm 2000/2001 an einem Projekt der Kraichgauer Kunstwerkstatt und des Kurpfälzischen Museums teil. Als einer von neun Künstlern lernte er die Sammlungen des Museums kennen. Er fertigte sorgfältige Bleistiftzeichnungen an, einmal vor Ort, dann aber auch zuhause oder in der Kunstwerkstatt aus dem Gedächtnis. Diese Zeichnungen dienten als Formenrepertoire für seinen schon zu Beginn des Projektes gefassten Entschluss, einen lebensgroßen Seehund aus Pappmache zu modellieren und zu bemalen. Der Seehundkörper wurde für Michael Hall zur Projektionsfläche seiner Imaginationen. Er hat für sich das Museum als "terra incognita" erforscht und mit seinen Wünschen und Vorstellungen besetzt, der Seehund hilft ihm dabei. Er anverwandelt das Fremde, entfremdet es für sich und bearbeitet es mit dem Maßstab des eigenen Sehens.

Der Tierkörper wird von Michael Hall theatralisch, dekorativ ausstaffiert. Er ordnet seine bevorzugten Kunstwerke in gezeichneter Form linear auf dem Tierkörper an. Der schwere Korpus ist aus Drahtgeflecht im Innern vorgeformt, dann mit Pappmache kaschiert und modelliert. Dieses wurde auf das sorgfältigste geglättet und geschliffen, nur so können die feinen Bleistiftlineaturen auf die Oberfläche aufgezeichnet, die farbigen Tuscheflächen aufgemalt werden. Michael Hall arbeitet in vielen Schichten mit Pinseln und lichtechten Farbtuschen, die er in vielen Nuancen mischt. Das Figurenfries auf dem rundlichen Tierkörper wird von Wasser, Wasserpflanzen und Fischen eingerahmt, "schließlich fließt der Neckar am Museum vorbei" (M. Hall).

Gerahmte Blumenstillleben, die Schiffe aus den gemalten Meereslandschaften, Barockkommoden, Blumensträuße und eine Menge Besucher bevölkern den Untergrund ohne große Überschneidungen. Es gibt kaum Lücken, und Michael Hallbietet in einem großen "all-over" sein gesamtes Formenrepertoire auf. Die ausgewählten Motive werden repetiert, sie gehorchen eigenen Groß-und Kleingesetzen. Die größte, weil bedeutendste Figur, ist König David mit seiner Leier nach einer mittelalterlichen Holzfigur, die, farbig gefasst, das bevorzugte Objekt des Künstlers war. Er stellt dem im Museum einsam stehenden König eine etwas kleiner gezeichnete Königin zur Seite. Imagination und die sogenannte Realität werden ununterscheidbar.

Der Künstler setzt sich selbst klein an die rechte Seite des Königs, er liebt Musik und er gibt dem König deshalb ein "schönes Konzert" (M. H.) auf dem Jugendstilflügel des Museums. Sein Spiegel wird von Blumensträußen geschmückt. In der Reihung folgen zwei gezeichnete gedeckte Tische. Sie verweisen auf die Porzellansammlung des Museums und auf die Ansicht des Künstlers, dass zu festlicher Musik auch ein gutes Essen gehört.

Michael Hall zeigt sich hier selbst als aktiven Künstler, der auch mit großer Bestimmtheit über seine künstlerische Vorgehensweise und seine Arbeiten spricht. Am Seehund arbeitete er monatelang, größtenteils im Liegen, es ist seine bisher größte Pappmacheskulptur. Andere sind im Aufbau ähnlich, sie heißen "Tag-und-Nacht-Rundling", "Zirkussektpokal" oder "Geschichtenkauz".

Im "Museumsseehund" bearbeitet er seine Erfahrungen aus dem Museum, er reagiert aber auch auf ureigenste Weise auf Kunstwerke anderer Künstler, d.h. sein Werk antwortet anderen. Michael Hall, der seit 1987 in der Kraichgauer Kunstwerkstatt arbeitet und an zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland teilnimmt, zeigt im Seehund die Intensität, Stimmigkeit und Unverwechselbarkeit seines persönlichen Stils: Seine Art, Musik zu machen, wie er selbst sagt.

Seit Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts ist die Kunst von Menschen, die wegen ihrer Behinderung am Rande des gesellschaftlichen Lebens stehen, immer mehr von einer interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Die Sammlung Prinzhorn nimmt hier einen besonderen Platz ein. Das Buch des Heidelberger Psychiaters Hans Prinzhorn "Über die Bildnerei der Geisteskranken" (1922) zeigte eine Kunst, der Ursprünglichkeit wichtiger war als die akademischen Finessen des traditionellen Kunstbetriebs. Künstler wie Paul Klee, Max Ernst, Andre Breton, Jean Dubuffet usw. wurden in ihren eigenen künstlerischen Prozessen von dieser "Art Brut" (Dubuffet) beeinflusst. Mit Prinz-horns Buch wird eine besondere Art der Weltsicht gewürdigt, die inzwischen weitgehend anerkannt ist. Das künstlerische Arbeiten mit Behinderten, also Menschen mit geistiger, besser intellektueller Behinderung wird seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in Mal- und Kunstwerkstätten angeregt und betreut. Nicht alles, was hier entsteht, ist "Kunst". Es gilt: Nicht die Behinderung als solche ist Ursache und Ursprung künstlerischer Leistung, denn auch hier sind die Begabungen ganz unterschiedlich. Es zeigt sich jedoch, dass intellektuelle Behinderung nicht notwendig die "bildnerische Intelligenz" (M. Kläger) beeinträchtigt, diese zeichnet viele dieser Arbeiten im hohem Maße aus. Sie brauchen deshalb auch den Vergleich mit anderen biographischen Kontexten nicht zu scheuen. Entscheidend ist jene schwer messbare und definierbare Intensität, die von "echter Kunst" ausgeht, sich jedoch nicht unbedingt auf Anhieb, sondern oft erst durch intensives Betrachten und Vergleichen des Betrachters mit anderen Arbeiten erschließt.

Die "Kraichgauer Kunstwerkstatt" ist eine Arbeitsgruppe der Kraichgauer Werkstätten für Behinderte GmbH in Sinsheim. Neben Produktionswerkstätten wie Schreinerei und Montage arbeitet die Kunstwerkstatt. Dort gibt es keine therapeutischen Zielsetzungen, die neun Mitglieder arbeiten selbständig und authentisch an den eigenen Projekten. Hilfestellung, falls nötig, kann beim künstlerischen Leiter der Werkstatt eingeholt werden

Seit dem Frühjahr 2000 besuchte die Werkstattgruppe die Sammlungen des Kurpfälzischen Museums Heidelberg. In der Kunstwerkstatt entstand, angeregt durch die Kunstwerke und die Museumsatmosphäre, eine große Zahl von Zeichnungen und farbigen Bildern, die den immensen Färb- und Formenreichtum und die gestalterischen Fähigkeiten der Künstler widerspiegeln.

Eine Auswahl der Arbeiten wurde in der Ausstellung "Hinter den Augen funkelt der Bilderwald" im Kurpfälzischen Museum gezeigt, das die Arbeit von Michael Hall für seine Skulpturensammlung ankaufte. Mit diesem Gehege für sein "Kunstgetier" (M.H.) zeigte sich der Künstler Michael Hall sehr zufrieden.

Text: Angelika Dirscherl

 

 

Pappmache, Bleistift, Farbtusche
Ca. 140x70x40 cm
Inv. Nr. PS 352
 

Literatur

Paul Klee, Schriften. Hg. Ch. Geelhaar. Köln 1976
Leonhard Emmerling, Bildnerei der Geisteskranken, Art Brut und Aussenseiterkunst-Ansätze zu einer Begriffsklärung. In: Heidelberger Jahrbücher, Heidelberg 1993, S.83- 102
Hans-Jürgen Heinrichs, Wilde Künstler. Über Primitivismus, Art Brut und die Trugbilder der Identität. Hamburg 1995
Wolfgang Hübner, Die Kraichgauer Kunstwerkstatt. Sinsheim 1997
Georg Theunissen, Kunst, ästhetische Praxis und geistige Behinderung. Bad Heilbrunn 1997
Claudia Dichter/ Charlotte Zander, Outsider Art. Museum Charlotte Zander. Bönnigheim 1999
Max Kläger, Kunst und Künstler aus Werkstätten. Hohengehren 1999

 
siehe auch:  
zurück zur Übersicht

weiter:  März 2004


Zurück:
zur Heidelberg-Seite - zum Städte-Menü - zum Hauptmenü
Register - Impressum
ZUM
© Badische Heimat 2002