10. Mai
- 30. Juli 2006
Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig
Unter
ungewöhnlichem Blickwinkel gewährt das Herzog Anton Ulrich-Museum
Einblicke in eine bisher wenig beachtete Erscheinung der
Barockzeit. Als erstes europäisches Museum stellt es die
Herren- Perücke in den Mittelpunkt einer Ausstellung. Dieses
auffällige Zeichen des 17. und 18. Jahrhunderts mutet aus
heutiger Sicht faszinierend an, verbindet man doch mit den
Herrscherperücken kuriose zeremonielle Vorschriften, ausgesprochen
aufwändige Kleidung, verschwenderische Lebensweise und befremdliche
Hygienevorstellungen.
Über 150 Exponate aus dem In- und Ausland liefern eine
Vorstellung über zeremonielle Konventionen und die damit
verbundenen (Macht-) Ansprüche und (Dienst-) Pflichten der
Herrscher. Es ist erstmals gelungen, 23 der wenigen original
erhaltenen historischen Perücken aus namhaften europäischen
Sammlungen zusammenzutragen, u.a. die Perücke König Karls
XII. von Schweden. Wie ein roter Faden zieht sich die Entwicklung
der Perücken durch die Ausstellung: Ende des 17. Jahrhunderts
verbreitete sich nach dem Vorbild des französischen Königs
Ludwig XIV., des "Sonnenkönigs", die wallende Allongeperücke
an den europäischen Fürstenhöfen. Sie ist als Bestandteil
des höfischen, gleichsam inszenierten Zeremoniells unverzichtbar.
Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstand ein neues Verständnis
von Natürlichkeit. Die Perücken wurden kürzer; Beutel- und
Zopfperücken kamen in Mode. Nunmehr unterwarf sich auch
das Bürgertum dem Modediktat; erst im Laufe des 19. Jahrhunderts
wurde es auch für die Dienerschaft zur Pflicht.
Grafiken von William Hogarth und filigrane Porzellangruppen
belegen, dass bereits Zeitgenossen diesen Modeerscheinungen
mit Spott und Ironie begegneten. Ein Abstecher in die Damenmode
zeigt, dass die Perücke hier erst Ende des 18. Jahrhunderts
Verbreitung fand. Eine nachgestellte Toiletteszene deutet
an, dass Verfremdung und Selbstinszenierung auch mittels
aufwändigem Schminken - nicht selten im Beisein von Besuchern
- erreicht wurde.
Weitere kostbare Textilien und Kostüme, wie ein reich besticktes
Herrenkostüm aus der Schweiz, Accessoires, wie Schuhe und
Fächer, sowie Kuriositäten, wie eine Flohfalle oder eine
Glasfaserperücke, lassen das barocke Lebensgefühl lebendig
werden. Die Ausstellung macht deutlich, dass im Zeitalter
des Barock etwas beginnt von dem, was die Menschen des 21.
Jahrhunderts als "durchgestyltes" Auftreten empfinden.
Es erscheint ein Katalog im Koehler & Amelang Verlag, 256
S., ca. 220. Abb., größtenteils farbig, 29,90 € (ISBN 13:
978-7338-0344-5 / ISBN 10: 3-7338-0344-2)
Bild: Perückenmacher mit Perückenstock, Wien um 1755,
Sammlung Schwarzkopf im Deutschen Hygiene Museum Dresden,
Foto: Werner Lieberknecht