Die Freiburger Welt eines Gelehrten von europäischem
Rang
Das neueste Buch von Hans Maier ist seine Autobiographie. Auf
400 Seiten entfaltet sich das Leben eines Gelehrten, Literaten,
Organisten, Politikers und engagierten »katholischen Laien«.
Auf all diesen Gebieten hat er sich internationalen Ruf erworben.
Hier soll - wegen des Ortes, an dem diese Zeilen erscheinen -
nur der erste Teil des Maierschen Buchs besprochen werden. Er
gilt der »Freiburger Welt« und umfasst ein gutes
Viertel des Gesamtumfangs.
Maier gibt hier Auskunft über seine Kindheit und Jugend
und über die Anfänge seiner akademischen Karriere.
Dass erst nach der Habilitation geheiratet wurde, entspricht
damals gutem Brauch. An dieser Stelle sei auf die schöne
Erzählung von der Heirat mit der jungen Kindergärtnerin
und Religionslehrerin Agnes Dilly hingewiesen, die im Kollegenkreis »seine
blutjunge Frau« genannt wird. Maier tat gut daran, sich
weder künstlich klein zu machen noch ständig von Heldentaten
zu berichten. So schreibt er - wohl auch im Namen seiner Frau
- über die sechs Maier- Töchter, dass aus ihnen »tüchtige
und selbständige Frauen wurden - Brävlinge waren unsere
Mädchen nicht. Dafür hatten sie wohl auch von ihren
Eltern zu viel Narrheit und Eigensinn geerbt.«
Die »schlechten Jahre«, die der Buchtitel ankündigt,
konzentrieren sich auf die Zeit des Nationalsozialismus und des
Zweiten Weltkrieges, die »guten Jahre« auf die Restrukturierung
ziviler Verhältnisse im deutschen Südwesten und in
der Bundesrepublik; sie werden zum Hintergrund der Maierschen
Karriere. Im Freiburger Kaufhaus erlebt der Gymnasiast zwischen
1946 und 1951 zum ersten Mal Landtagsdebatten, bei denen Staatspräsident
und Kultusminister Leo Wohieb oft: im Mittelpunkt steht. Was
auf der Besuchertribüne zu hören ist und was man in
der damaligen gelb-rot-gelben (süd-) badischen Hauptstadt
miterleben kann, macht den damals noch fehlenden Sozialkunde-Unterricht
mehr als wett.
Maiers Bericht über die »Freiburger Welt« beginnt
mit der elterlichen Wohnung in der Oberau: »Vom Balkon
sah man die Schwarzwaldberge. Blau in der Ferne; grün in
der Nähe füllten sie den ganzen Horizont ... An unserer
Wohnung floss die Dreisam vorbei ... Manchmal, in Sommertagen, übertonte
der Lärm der Grillen in den umliegenden Gärten und
Wiesen das Rauschen des Flusses.« Der Leser erfährt
von den Schicksalsschlägen in der Familie: bei einem häuslichen
Unfall verliert der ältere Bruder sein Leben, eine Krankheit
im Jahr darauf rafft den Vater dahin. Die Mutter, bis an ihr
Lebensende Witwe, bringt mit viel Mühe drei Kinder durch
den Krieg. Der Autor selbst ist der Jüngste. Über die
Zeit der Nationalsozialisten erzählt er nüchtern und
ohne Widerstandsbe- rühmung. Immerhin: Die Mutter hängt
an Tagen, an denen geflaggt werden soll, keine Fahne zum Balkon
hinaus. Hans wird dafür in der Schule zur Rechenschaft gezogen
und weiß, dass er die Einstellung der Mutter nicht benennen
darf. Auf dem Hirzberg, nicht weit von der heimischen Wohnung,
wird auf höhere Anweisung ein holzgezimmertes riesiges JA
aufgestellt, das die erwünschte Antwort auf den Stimmzetteln
zum Anschluss Österreichs bietet. »Es ist meine früheste
Erinnerung an ein politisches Ereignis ... Immerhin: meine Mutter
ging nicht zur >Wahl<.«
Der Bub Hans, musste lernen, sich gegen gleichaltrige Schulkameraden
zu behaupten. Ein Lehrer sieht sein Begabung und empfiehlt ihn
dringend für das Gymnasium. 1941 tritt er ins Friedrich-Gymnasium
ein, dessen »humanistischer und christlicher Hintergrund« trotz
einiger Lehrer mit Parteiabzeichen am Revers »noch immer
deutlich zu spüren« ist. Im Rückblick beschreibt
er die Stellung der Schule in der Diktatur: »Ein humanistisches
Gymnasium bietet ja unendliche Möglichkeiten der Anspielung,
der Mehrdeutigkeit, der Camouflage - vor allem in den alten Sprachen«.
Den Luftangriff vom 27. November 1944, der »das schöne
Freiburg in Schutt und Asche legte« und bei dem 3000 Einwohner
ihr Leben und 25 000 ihre Wohnungen verlieren, erlebt der 13-jährige
im Keller seines Wohnhauses in der Oberau, er ist mit Hausgenossen
zusammen kurze Zeit verschüttet. Im Februar 1945 wird die
Familie an anderer Stelle erneut ausgebombt, die Mutter entgeht
dem Tod mit knapper Not. Vom Angriff bis zum Einzug der Franzosen
herrscht »das Gefühl einer ungeheuren Beengung«.
Es gibt keine Möglichkeit, aus dem zerstörten und ständigen
Tieffliegerangriffen ausgesetzten Freiburg herauszukommen. Kein
Wunder, dass die Zeit danach als »eine Zeit der Befreiung,
des Auf- und Einatmens, der Aufbruchsstimmung«
beschrieben wird. Das ist erlebte Befreiung, kein Gegensatz zur »Niederlage«,
wie Weizsäcker ihn als neue politisch korrekte Sinngebung
des 8. Mai vorgeschlagen hat.
Südbaden gilt nach den ersten demokratischen Wahlen als »Studienräterepublik«.
Mehrere Gymnasiallehrer haben politisch leitende Stellungen inne:
Leo Wohieb, Paul Fleig, Karl Person. Die Folge davon ist, dass
im Land »Politik und Recht, Geist und Schule eng nebeneinander
wohnten! Allenthalben herrschte eine - manchmal leicht schulmeisterlich
gefärbte - Redlichkeit.« Der Autor macht aus seiner
Bewunderung für den Staatspräsidenten kein Hehl: »Ich
schätzte und verehrte Leo Wohieb, den kleingewachsenen,
beredten Streiter für die badische Sache.« Mit ihm
sei ein Hauch von eidgenössischer Demokratie in die Politik
im deutschen Südwesten eingekehrt. Konrad Adenauer, den
Maier anerkennend den »großen Ernüchterer« nennt,
habe man verübelt, »dass er kein Verhältnis zum
alten Baden hatte - und wohl auch nicht zu seinen politisch-so-
zialen Traditionen, der katholisch-evangelischen Simultanschule
und der bei uns üblichen Großen Koalition.«
Im Alter von 20 Jahren beginnt der Abiturient sein Studium.
Er ist der erste aus seiner bäuerlichen und handwerklichen
Verwandtschaft, der zu akademischen Studien gelangt - der Großvater
mütterlicherseits war immerhin Dorfbürgermeister der
Gemeinde Hausen an der Möhlin. Der Assistent Arnold Bergstraessers
und spätere Privatdozent gilt in der Verwandtschaft vorerst
als Sonderling, von dem man nicht weiß, was er tut. Als
Vertrauensdozent der Studienstiftler an der Freiburger Universität
wird er mit den jungen Leuten Ausflüge in den Schwarzwald
und in den Breisgau unternehmen: »Die Weinorte des Tunibergs,
des Kaiserstuhls lagen vor der Freiburger Haustür - was
lag näher, als dorthin zu wandern und in die Gasthöfe
einzukehren, die seinerzeit schon Johann Peter Hebel durch ihre
urigen oder frommen
Namen entzückt hatten: in den >Löwen< oder >Bären<,
in das >Kreuz< oder in die >Dreikönige<?«
Über die wissenschaftlichen Themen und damalige Kollegen
an der Freiburger Universität erfährt man viel Aufschlussreiches.
Dann naht der Abschied von der Heimatstadt. Freiburg gilt jetzt
als »eine fast zu schöne Stadt ... Man musste sie
lieben. Man musste sie aber wohl eines Tages auch verlassen -
vor allem wenn man dort geboren war.« Das Motiv dafür
gibt ihm ein befreundeter Musikwissenschaftler vor, der ebenfalls
einem Ruf nach München folgte: »In Freiburg war ich
so ziemlich allein, ein Solist, ich beherrschte die Szene. In
München dagegen gab es zahlreiche Komponisten, es herrschte
Konkurrenz. Da wurde ich herausgefordert, ich musste mich entwickeln,
musste kämpfen.« Maier beginnt in München eine
steile Karriere, wo er sich auf vielen Feldern auszeichnet.
In der »Freiburger Welt« schlägt Maier, vor
allem eingangs, einen Ton an, der an den Autor des Schatz- kästleins
erinnert. Es ist beileibe nicht das einzige Sprachregister, das
er zieht, und so genießt man den Erzählduktus und
den variierenden und doch unverwechselbaren Ton von Kapitel zu
Kapitel. Historische Erläuterungen werden wie absichtslos
eingestreut. Wo er - gegen Ende des Buches - von einer Begegnung
mit Hilde Domin erzählt, rühmt er ihre »rasche
Auffassungs- und Formulierungsgabe«, der er »als
langsamer Alemanne kaum gewachsen« gewesen sei. Bewertungen
von Personen und Sachen durchziehen das Buch auf jeder Seite
(das Personregister umfasst dreizehn in Doppelreihen klein bedruckte
Seiten), und immer gibt er etwas von sich selbst preis: wie er
den viel geschmähten badischen Staatspräsidenten Wohieb
bewundert, wie er seine Beziehung zu Kardinal Ratzinger zunächst
in freundschaftlich warmen, dann abgekühlten und kritischen
Bemerkungen beschreibt. Aber von späteren Teilen sollte
in dieser Buchanzeige die Rede nicht sein, auch wenn sie nicht
weniger lesenswert sind.
Paul-Ludwig Weinacht
|