Rezensionen

Volker Meid: Das Reclam Buch der deutschen Literatur. Stuttgart (Philipp Reclam jun.) 2004. 562 S., 606 Abb., 49,90 €.

Epochendarstellungen und Epochenvorlesungen sind im Literaturunterricht und in Vorlesungen an Volkshochschulen, Gymnasien und Universitäten schwierig geworden. Die durch das Vordringen visueller und neuartiger auditiver Medien bestimmten Rezeptionsgewohnheiten junger Leute erschweren den Umgang mit umfänglicheren Texten und weit gespannten ideellen Komplexen. Rasch machen sich beim Leser oder Hörer Ungeduld und Langeweile breit.

Der Reclam Verlag und sein Autor Volker Meid, ein beschlagener Literaturwissenschaftler und sensibler Didaktiker, schlagen mit diesem Band einen neuen Weg ein. Sie verzahnen historische Epochendarstellung und systematische Fragestellungen (poetische Begriffe, Gattungen, Medien, Rezeptions-und Wirkungsformen und manches mehr) miteinander. Die dadurch vorgegebene Stoffülle wird elegant in solcher Weise bewältigt, daß in neun Epochenschritten jeweils nur wenige markante Autoren vorgestellt werden, an deren Werken zugleich zeittypische Gattungen, geistesgeschichtliche Strömungen, Medien u. s. w. in Kürze umrissen werden. Das erlaubt ständigen Rückgang vom Einmaleins literarischer Begriffe zum konkreten Material und umgekehrt. Mit herkömmlichen Literaturgeschichten hat das wenig mehr zu tun, schon weil Volker Meid sich nicht mehr auf den Linien des Höhenkamms der ästhetisch anerkannten Werke entlang bewegt, sondern zum Beispiel im 16. Jahrhundert neulateinische Dichtung und das Kirchenlied, in der Moderne Literaturverfilmungen mit einbezieht, am Maßstab der kulturellen Breitenwirkung gemessen. Auch Verweise auf französische, englische, spanische Literatur werden eingebracht.

Volker Meid hat die aus nicht wenigen seiner Handbücher zur Literatur schon bewiesene Fähigkeit, schwierigste Komplexe in knappen Strichen zu skizzieren. So ist die auf zwei Seiten (178–179) bewältigte Darstellung des säkularen Geschichtsverständnisses der Neuzeit vor der Folie heilsgeschichtlicher Auffassungen zuvor, bezogen auf das barocke Drama und den höfischen Roman, ein Kabinettstück. Und selbst der literaturhistorische Kenner wird bei aller Gedrängtheit der Darstellung gelegentlich überrascht werden. So bei dem Auszug aus dem Tagebuch Casanovas, in dem er seinen Besuch in der Wolfenbütteler Fürstenbibliothek beschreibt. Dieser Bericht steht (S. 173) in einer Randspalte zum Kapitel über das Bibliothekswesen im 17. Jahrhundert, die in anderer Farbe koloriert, in anderen Typen gesetzt ist als der daneben stehende Haupttext. Zusätzlich wird er ergänzt durch die Reproduktion eines Porträts des Besitzers der Bibliothek, Herzog August des Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg. Eine kolorierte Zeichnung der barocken Bibliothek des Klosters St. Gallen tritt hinzu. Die Dichte dieser illustrierten Teile – sie nehmen so viel Platz ein wie der Text – ergibt ein Badische Heimat 3/2005 plastisches Bild des literarischen Lebens an Höfen und in Klöstern. Das Gleiche gilt für den Band insgesamt. Sein Schriftbild ist durchgängig durch Randspalten und Wechsel der Schrifttypen aufgelockert. Insgesamt 606 ein- und mehrfarbige Reproduktionen (Photographien von Manuskripten, Titelblättern und Autoren, Kupferstichen und Zeichnungen, Szenenfotos von Dramen) geben ein Panoptikum, angesichts dessen man den Drang zum Blättern kaum unterdrücken kann. Autor und Verlag haben sich damit viel Mühe gegeben, obgleich auf einzelnen Reproduktionen die Schrift von Buchseiten kaum zu lesen ist. Mit einem Sach- und einem Personenregister hat der Autor die Möglichkeit offen gehalten, den Band als Nachschlagewerk zu benutzen. Gewiß, wenn bei jungen Leuten überhaupt noch die Neugierde auf Literatur geweckt werden kann, dann durch diesen schnellen Wechsel vielfacher Reize.

Sicher nicht zufällig steht als erste Abbildung ein Trompe-l’oeil, auf dem ein aufgeblättertes Buch älterer Provenienz abgebildet ist, mit seinen Halteriemen und Goldmajuskeln. Kein Wunder: Es fesselt den Blick und verblüfft. Man kann nur hoffen, daß einfühlsame Dozenten aller Art verstehen werden, ihre Zuhörer über das Blättern und die Verblüffung hinauszuführen.

Walter E. Schäfer

3/2005
   

siehe auch:

zurück:

Startseite Surfin' Süden | Startseite Badische Heimat | Rezensionen | Register | Impressum | zur ZUM | © Badische Heimat 2005