Reitzel,
Robert: „Ich will nur auf einem Ohre schlafen, damit ich
keinen Weckruf zur Freiheit verpasse …“, hrsg. von Manfred
Bosch. Karin Kramer Verlag, Berlin, 1. Auflage 2004. 269
S. ISBN 3-87956-292-X, 24,– €.
Der
Buchtitel macht neugierig auf ein Lebenswerk, das, obwohl
in deutscher Sprache verfasst, hauptsächlich in den USA
ausgetragen wurde. Robert Reitzel. 1849 in Langenau im Wiesental
geboren, wandert mit einundzwanzig Jahren nach Amerika aus,
wo er zuerst als Gelegenheitsarbeiter und Tramp die neue
Heimat kennen lernt. Nach einem kurzen Theologiestudium
tritt er eine Stellung als Pfarrer an. Sein scheinbar in
sicheren Bahnen verlaufendes Leben verlässt er jedoch bald
wieder, da seine Predigten in zunehmendem Maß kritischer
und freidenkerischer werden. Wieder hält er sich und seine
wachsende Familie mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser.
Erst
1884 gründet er mit Unterstützung von Freunden in Detroit
die deutschsprachige Zeitschrift „Der arme Teufel“, in der
er vierzehn Jahre lang bis zu seinem durch eine schwere
Krankheit verursachten frühen Tod im Jahr 1898 – seine wahre
Berufung auslebt. Schriftstellerisch wie rednerisch begabt
liefert Reitzel in wöchentlichen Beiträgen seine Sicht auf
die Welt. Sein wahrheitssuchendes Naturell lässt ihn zu
einem immer schärferen Beobachter werden, implizit tradierte
Werte hinterfragen und fromme Heuchelei in jeder Form bekämpfen.
Dabei zeigen die im vorliegenden Auswahlband versammelten
Texte die Bandbreite seines schriftstellerischen Könnens.
Im ersten
Text, einer fast die Hälfte des Bandes einnehmenden autobiografischen
Rückschau, schlägt er einen stellenweise sarkastischen Ton
an. Diese „Abenteuer eines Grünen“ spiegeln im alter ego
nicht nur den scheinbaren Taugenichts, sondern enthalten
darüber hinaus bereits wichtige sozialgeschichtliche Beobachtungen
über Amerika-Einwanderer aus der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts. Im Lauf der – leider nicht datierten, sondern
nach Themen geordneten Texte – lässt sich eine immer präzisere
Form der Beobachtung feststellen. Als herausragend sei seine
„Weihnachtspredigt“ genannt, die im Kontrast zur allgemein,
gedankenlos verkitschten Weihnachtsstimmung den Skandal
des Geschehens, krass und wahrhaftig, schildert. Anekdotisch
ist das Kapitel vom „sittlichen Ernst“ gehalten, „Aus den
Klassen der Isten“ ist eine sarkastische Abrechnung mit
dem Schuhladendenken, im Kapitel „Unser Programm“ endlich
schildert er das Anliegen seiner Zeitschrift. Die späten
Texte, bereits vom Krankenlager aus geschrieben, weisen
zwar einen verengten Beobachtungsradius auf, führen jedoch
zur Vertiefung seiner Beobachtungen. Allein um den Abschnitt
„Passiflora“ lesen zu können, lohnt sich der Kauf des Buches.
Zart und anrührend schildert Reitzel das Leben seiner Katze.
Die Sensibilität der Darstellung erschließt sich jedem,
der den Gedanken des Autors bis zum Ende folgt. Dies gilt
für alle von Manfred Bosch zusammen gestellten Texte. Alles
wird verständlich, alles wird Ausdruck seines menschlichen
Charakters, der unerbittlich ist in der Treue gegen sich
selbst. Robert Reitzels Zeitschrift „Der arme Teufel“ wurde
noch bis 1900 von seiner Witwe Anna weiter redigiert. Die
kurz vor dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1913 herausgegebene
Textauswahl des „armen Teufels“ in drei Bänden darf dabei
nicht nur als Ausdruck der Verehrung Robert Reitzel gegenüber
verstanden werden. Die Bedeutung des „armen Teufel“ liegt
in der sehr persönlichen Art Gedankengut des 19. Jahrhunderts
einem amerikanischen, noch deutschsprachigen Lesepublikum
zu vermitteln.
Robert
Reitzels Schreib- und Denkweise orientiert sich exemplarisch
an Nietzsche, Heine, auch Fritz Reuter. Durch ihre Authentizität
ist sie heute immer noch lesenswert. Das Buch wird der Wiederentdeckung
eines originellen Denkers mehr als gerecht. Manfred Bosch
traf eine Textauswahl, die erstaunlich lebendig wirkt. Das
Nachwort, elegant geschrieben, bietet eine exzellente und
lückenlose Zusammenfassung von Robert Reitzels Leben und
Werk. Forum Allmende brachte das Buch mit kommunaler Hilfe
und Spenden des Museumsvereins und des Kulturfördervereins
Lörrach heraus.
Ulrike
Falconer
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