Kunstwerk des Monats
Dezember 2004
- Sammlungsblatt -

Karl Weysser (1833-1904):
Heidelberg, Marstall, 1901

Ein Bild aus dem idyllischen, von der Industrialisierung noch völlig unberührten Leben in der Stadt am Neckar zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Der 1833 im badischen Durlach geborene Landschafts- und Architekturmaler Karl Weysser kam nach Studium und Akademieaufenthalten in Karlsruhe und München im Herbst 1879 nach Heidelberg. Zunächst wohnte er in der Karlstraße 16, ab 1881 in der Lauerstraße 5. Er war befreundet mit dem ebenfalls erst kürzlich zugezogenen Gymnasialprofessor und Landschaftsmaler Max Wolf (1834-1901), der auch dem Vorstand des Heidelberger Kunstvereins angehörte. Unzufrieden über den mäßigen Erfolg seiner Bilder, für den er in einer Satire "An die Mitglieder des Kunstvereins in Hutzelwaldberg" (1883) die Ankaufs- und Ausstellungspraxis der Jury des Kunstvereins und die Kunstkritiker verantwortlich machte, verließ Weysser im Frühjahr 1884 Heidelberg und zog nach Baden-Baden. Dort heiratete er Auguste Luise, die Tochter des Postexpeditors Wilhelm Sickinger aus Waghäusel, die er vermutlich in Heidelberg kennengelernt hatte. Nach einem weiteren Zwischenaufenthalt in Karlsruhe kehrte der Künstler im Herbst 1895 endgültig nach Heidelberg zurück. Zuerst wohnte er in der Bergheimer Straße 49, doch schon bald bezog er eine größere Wohnung mit Atelier in der Plöck 77. Schnell fand er Anschluss an den nicht weit von ihm in der Klingenteichstraße 6 wohnenden Maler Guido Schmitt (1834-1922), der 1886 im Jahr der großen Feierlichkeiten zum 500. Universitätsjubiläum nach seinem knapp dreißigjährigen Englandaufenthalt nach Heidelberg zurückgekehrt war.
Weyssers künstlerisches Werk umfasst über 3.000 Architekturzeichnungen sowie etwa 600 Ölgemälde und Studien. Dies zeugt nicht nur von einer enormen Schaffenskraft, sondern auch von einer außergewöhnlichen Reisefreudigkeit, die den Maler in den süddeutschen Raum, aber auch in das Rhein- und Moseltal, in das Elsass und nach Tirol führte. Vor Ort entstanden zahlreiche Zeichnungen und Studien, die später im Atelier ausgearbeitet wurden. Vor allem in seinen letzten Lebensjahren, in denen Weysser keine Reisen mehr unternehmen konnte, griff er auf seinen reichen Fundus älterer Zeichnungen als Vorlage für seine Gemälde zurück, so auch in dem 1901 signierten und datierten Gemälde "Marstall".
Wie auf einem Photo hat Weysser in diesem Gemälde eine vormittägliche Alltagsszene vor dem östlichen Wehrturm des Zeughauses am Ne-ckarstaden festgehalten. Dienstboten, Knechte und Mägde gehen ihren Alltagsgeschäften nach. Ein mit Stroh beladenes Fuhrwerk steht zur Abfahrt bereit, während ein kleiner Junge sich vorsichtig den vorgespannten Kühen nähert. Wie ein Fähnrich trägt ein Bootsmann das große Tuchsegel an Land. Die Menschen haben sich viel zu erzählen. Eifrig gestikulieren sie mit den Händen und warten vor den spitzbogigen Toren des als Zollschuppen benutzten Zeughauses auf das Eintreffen des Marktschiffs. Auf dem Neckar herrscht reger Schiffsverkehr. Im Hintergrund erkennt man die 1877 fertiggestellte Friedrichsbrücke, im Vordergrund hat ein kleiner Nachen festgemacht, worin sich ein junger Mann vor seinen beiden weiblichen Zuhörerinnen als Reiseführer profiliert. Sein ausgestreckter Arm weist auf das Zeughaus, den größten Gebäudekomplex in der Heidelberger Altstadt aus kurfürstlicher Zeit.
Ludwig V. (1508-1544), genannt "der Friedfertige", hatte das ursprünglich im Schlossbereich geplante Lagergebäude von seinem Baumeister Moritz Lechler zum Teil mit Steinen der vom Blitzschlag zerstörten Oberen Burg als Stapelraum für Versorgungsgüter und Ausrüstungen am Neckarufer errichten lassen. Um es gegen mögliche Angriffe zu wappnen, wurde es mit vier Ecktürmen flankiert, die mit Maulscharten für Handfeuerwaffen versehen waren. Starke Befestigungsmauern aus bossierten Buckelquadern umschlossen einen geräumigen Innenhof, dessen Zufahrt von Westen aus erfolgte, während sich im Osten der Schießgraben für Wettkampfspiele und Volksbelustigungen aller Art anschloss. Ursprünglich reichte der Neckar mit seinen Wellen unmittelbar an die 135 Meter lange Nordfront des Zeughauses, an dessen Mitteltor Schiffe direkt anlegen und ihre Ladung durch eine Krangaupe löschen konnten. Ein weiterer Kran, drehbar und für größere Lasten ausgelegt, befand sich an der Nordwestecke des Zeughauses auf dem Vorland, dem heutigen Krahnenplatz.
1590 wurde das Zeughaus durch Kuradministrator Johann Casimir (1583-1592), Urbild des volkstümlichen "Jägers aus Kurpfalz", an seiner zur Stadt hin gewandten Südseite durch den eigentlichen Marstallbau erweitert. Der prächtige Renaissancebau wurde im Orleansschen Krieg zerstört. Wie auf dem Merianpanorama von 1620 zu erkennen, erhob sich auf hohem Sockel das zweigeschossige Gebäude mit fünf dreistöckigen Spitzgiebeln, von denen die beiden äußeren durch zwei schlanke Treppentürme begehbar waren. Unter einer doppelten Freitreppe an der Vorderseite befand sich der Eingang zu den Stallungen, in denen mehr als hundert Pferde untergebracht werden konnten. Von den Zeitgenossen besonders bewundert wurden vor allem die 48 kunstvoll gearbeiteten Säulen an der Fassade. Zu Zeiten Johann Casimirs befand sich in dem Dachgeschoss ein großer Kornspeicher als Vorsorge gegen plötzlich einbrechende Hungersnöte durch Unwetterkatastrophen oder durch Krieg. Die in diesem Notspeicher gelagerten Fruchtvorräte wurden teilweise aus einer Erbschaftssteuer, teilweise aus einer eigens zu diesem Zweck erhobenen Abgabe finanziert.
In dem fortan Marstall genannten, nach dem Orleansschen Krieg aber weiterhin als Zoll- und Lagerschuppen benutzten Zeughaus wurde 1829, um Platz zu gewinnen, eine Zwischendecke eingezogen, für deren Beleuchtung man 28 Fenster an der Nord- und 20 an der Südseite ausbrach. 1850 schüttete man eine Terrasse für die Dampferanlegestelle auf, 1896 wurde dann auf gleicher Höhe der Neckarstaden vom Marstall bis zur Karl-Theodor-Brücke weitergeführt. Weyssers Gemälde zeigt den Zustand des Marstalls nach dem Brand vom Mai 1896 und vor Beginn der Bauarbeiten zum Neckarstaden. Das schräg von links einfallende Vormittagslicht mit dem sich im Bildvordergrund abzeichnenden Schatten der Heuscheuer bringt das vom Zerfall bedrohte mittelalterliche Mauerwerk des Wehrturms eindrucksvoll zur Geltung. Dahinter überragt die barocke Turmspitze der Providenz-kirche den vom Feuer heimgesuchten Ostflügel des Komplexes. Weyssers beschauliche Szene vor dem Marstall erweckt den Eindruck einer idyllischen Kleinstadt am Fluss, geprägt von der nostalgischen Sehnsucht nach der "guten alten Zeit". Von der Hektik und dem Lärm einer modernen Großstadt, den umwälzenden Folgen der Technisierung und der um 1900 einsetzenden Urbaniserung ist bei ihm nichts zu spüren.
Frieder Hepp

Literatur:
Benno Lehmann, Karl Weysser (1833-1904). Badischer
Architektur- und Landschaftsmaler. Monographie und
Werkverzeichnis. Heidelberg 1996.
Bernd Müller, Architekturführer Heidelberg. (Reihe Sonder-
veröffentlichungen des Stadtarchivs Heidelberg; Nr. 10),
Mannheim 1998.
Heidelberg um 1900. Stadt und Universität in einer Phase
der Expansion. Ausstellungskatalog für das Kurpfälzische
Museum hg. von Jörn Banns, Heidelberg 1986.
Günther Heinemann, Heidelberg, München 1983.
Sigrid Wechssler, Kalender Heidelberg. Tore, Türme, Plätze
im 19. Jahrhundert, Heidelberg 1991.

 
Heidelberg, Marstall, 1901,
Öl/ Leinwand,
Kurpfälzisches Museum Inv. Nr. G 468

 
 
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