Der 1833
im badischen Durlach geborene Landschafts- und Architekturmaler
Karl Weysser kam nach Studium und Akademieaufenthalten in Karlsruhe
und München im Herbst 1879 nach Heidelberg. Zunächst wohnte er
in der Karlstraße 16, ab 1881 in der Lauerstraße 5. Er war befreundet
mit dem ebenfalls erst kürzlich zugezogenen Gymnasialprofessor
und Landschaftsmaler Max Wolf (1834-1901), der auch dem Vorstand
des Heidelberger Kunstvereins angehörte. Unzufrieden über den
mäßigen Erfolg seiner Bilder, für den er in einer Satire "An die
Mitglieder des Kunstvereins in Hutzelwaldberg" (1883) die Ankaufs-
und Ausstellungspraxis der Jury des Kunstvereins und die Kunstkritiker
verantwortlich machte, verließ Weysser im Frühjahr 1884 Heidelberg
und zog nach Baden-Baden. Dort heiratete er Auguste Luise, die
Tochter des Postexpeditors Wilhelm Sickinger aus Waghäusel, die
er vermutlich in Heidelberg kennengelernt hatte. Nach einem weiteren
Zwischenaufenthalt in Karlsruhe kehrte der Künstler im Herbst
1895 endgültig nach Heidelberg zurück. Zuerst wohnte er in der
Bergheimer Straße 49, doch schon bald bezog er eine größere Wohnung
mit Atelier in der Plöck 77. Schnell fand er Anschluss an den
nicht weit von ihm in der Klingenteichstraße 6 wohnenden Maler
Guido Schmitt (1834-1922), der 1886 im Jahr der großen Feierlichkeiten
zum 500. Universitätsjubiläum nach seinem knapp dreißigjährigen
Englandaufenthalt nach Heidelberg zurückgekehrt war. Weyssers
künstlerisches Werk umfasst über 3.000 Architekturzeichnungen
sowie etwa 600 Ölgemälde und Studien. Dies zeugt nicht nur von
einer enormen Schaffenskraft, sondern auch von einer außergewöhnlichen
Reisefreudigkeit, die den Maler in den süddeutschen Raum, aber
auch in das Rhein- und Moseltal, in das Elsass und nach Tirol
führte. Vor Ort entstanden zahlreiche Zeichnungen und Studien,
die später im Atelier ausgearbeitet wurden. Vor allem in seinen
letzten Lebensjahren, in denen Weysser keine Reisen mehr unternehmen
konnte, griff er auf seinen reichen Fundus älterer Zeichnungen
als Vorlage für seine Gemälde zurück, so auch in dem 1901 signierten
und datierten Gemälde "Marstall". Wie auf einem Photo hat Weysser
in diesem Gemälde eine vormittägliche Alltagsszene vor dem östlichen
Wehrturm des Zeughauses am Ne-ckarstaden festgehalten. Dienstboten,
Knechte und Mägde gehen ihren Alltagsgeschäften nach. Ein mit
Stroh beladenes Fuhrwerk steht zur Abfahrt bereit, während ein
kleiner Junge sich vorsichtig den vorgespannten Kühen nähert.
Wie ein Fähnrich trägt ein Bootsmann das große Tuchsegel an Land.
Die Menschen haben sich viel zu erzählen. Eifrig gestikulieren
sie mit den Händen und warten vor den spitzbogigen Toren des als
Zollschuppen benutzten Zeughauses auf das Eintreffen des Marktschiffs.
Auf dem Neckar herrscht reger Schiffsverkehr. Im Hintergrund erkennt
man die 1877 fertiggestellte Friedrichsbrücke, im Vordergrund
hat ein kleiner Nachen festgemacht, worin sich ein junger Mann
vor seinen beiden weiblichen Zuhörerinnen als Reiseführer profiliert.
Sein ausgestreckter Arm weist auf das Zeughaus, den größten Gebäudekomplex
in der Heidelberger Altstadt aus kurfürstlicher Zeit. Ludwig V.
(1508-1544), genannt "der Friedfertige", hatte das ursprünglich
im Schlossbereich geplante Lagergebäude von seinem Baumeister
Moritz Lechler zum Teil mit Steinen der vom Blitzschlag zerstörten
Oberen Burg als Stapelraum für Versorgungsgüter und Ausrüstungen
am Neckarufer errichten lassen. Um es gegen mögliche Angriffe
zu wappnen, wurde es mit vier Ecktürmen flankiert, die mit Maulscharten
für Handfeuerwaffen versehen waren. Starke Befestigungsmauern
aus bossierten Buckelquadern umschlossen einen geräumigen Innenhof,
dessen Zufahrt von Westen aus erfolgte, während sich im Osten
der Schießgraben für Wettkampfspiele und Volksbelustigungen aller
Art anschloss. Ursprünglich reichte der Neckar mit seinen Wellen
unmittelbar an die 135 Meter lange Nordfront des Zeughauses, an
dessen Mitteltor Schiffe direkt anlegen und ihre Ladung durch
eine Krangaupe löschen konnten. Ein weiterer Kran, drehbar und
für größere Lasten ausgelegt, befand sich an der Nordwestecke
des Zeughauses auf dem Vorland, dem heutigen Krahnenplatz. 1590
wurde das Zeughaus durch Kuradministrator Johann Casimir (1583-1592),
Urbild des volkstümlichen "Jägers aus Kurpfalz", an seiner zur
Stadt hin gewandten Südseite durch den eigentlichen Marstallbau
erweitert. Der prächtige Renaissancebau wurde im Orleansschen
Krieg zerstört. Wie auf dem Merianpanorama von 1620 zu erkennen,
erhob sich auf hohem Sockel das zweigeschossige Gebäude mit fünf
dreistöckigen Spitzgiebeln, von denen die beiden äußeren durch
zwei schlanke Treppentürme begehbar waren. Unter einer doppelten
Freitreppe an der Vorderseite befand sich der Eingang zu den Stallungen,
in denen mehr als hundert Pferde untergebracht werden konnten.
Von den Zeitgenossen besonders bewundert wurden vor allem die
48 kunstvoll gearbeiteten Säulen an der Fassade. Zu Zeiten Johann
Casimirs befand sich in dem Dachgeschoss ein großer Kornspeicher
als Vorsorge gegen plötzlich einbrechende Hungersnöte durch Unwetterkatastrophen
oder durch Krieg. Die in diesem Notspeicher gelagerten Fruchtvorräte
wurden teilweise aus einer Erbschaftssteuer, teilweise aus einer
eigens zu diesem Zweck erhobenen Abgabe finanziert. In dem fortan
Marstall genannten, nach dem Orleansschen Krieg aber weiterhin
als Zoll- und Lagerschuppen benutzten Zeughaus wurde 1829, um
Platz zu gewinnen, eine Zwischendecke eingezogen, für deren Beleuchtung
man 28 Fenster an der Nord- und 20 an der Südseite ausbrach. 1850
schüttete man eine Terrasse für die Dampferanlegestelle auf, 1896
wurde dann auf gleicher Höhe der Neckarstaden vom Marstall bis
zur Karl-Theodor-Brücke weitergeführt. Weyssers Gemälde zeigt
den Zustand des Marstalls nach dem Brand vom Mai 1896 und vor
Beginn der Bauarbeiten zum Neckarstaden. Das schräg von links
einfallende Vormittagslicht mit dem sich im Bildvordergrund abzeichnenden
Schatten der Heuscheuer bringt das vom Zerfall bedrohte mittelalterliche
Mauerwerk des Wehrturms eindrucksvoll zur Geltung. Dahinter überragt
die barocke Turmspitze der Providenz-kirche den vom Feuer heimgesuchten
Ostflügel des Komplexes. Weyssers beschauliche Szene vor dem Marstall
erweckt den Eindruck einer idyllischen Kleinstadt am Fluss, geprägt
von der nostalgischen Sehnsucht nach der "guten alten Zeit". Von
der Hektik und dem Lärm einer modernen Großstadt, den umwälzenden
Folgen der Technisierung und der um 1900 einsetzenden Urbaniserung
ist bei ihm nichts zu spüren. Frieder Hepp
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