Kunstwerk des Monats
Mai 2006
- Sammlungsblatt -

Guido Schmitt: Der Bruder Nathanael schlafend

"Gute Nacht, mein Kind !
Guten Abend, gute Nacht,
Mit Rosen bedacht, ..."
(aus: Des Knaben Wunderhorn, 1806/08)

Alle tun es. Vögel tun es. Männer und Frauen tun es, Kinder tun es. Insekten, sogar Algen tun es. Katzen tun es bis zu fünfzehn Stunden am Tag. Warum wir schlafen, wissen wir nicht. Ohne Schlaf werden Menschen krank, sterben (Schlafentzug ist eine bekannte Foltermethode).Vielleicht weil wir den langen, naiven Schlaf der Tiere und der Kinder instinktiv mit der Phase unschuldigen Glücks gleichsetzen, hat der Schlaf Künstler und Denker aller Zeiten fasziniert.

In der Romantik und dem Biedermeier gehören Schlaf, Traum, Mond zum Repertoire der Kunst und spiegeln die Sehnsucht nach der Harmonie von Schöpfung und Mensch wider. (Bereits 1808/09 lässt Philipp Otto Runge ein kleines Kind auf einer Wiese als "Morgen" aus Schlaf und Traum aufwachen.)
Guido Schmitt zeichnet 1850 als Sechzehnjähriger seinen kleinen Bruder, als liege er direkt neben ihm, auf Augenhöhe. Das kleine Gesicht, dessen Licht- und Schattenwerte mit Bleistift geschickt und sicher gesetzt sind, liegt auf dem mit knappen Parallelschraffuren nur angedeuteten Kissen, der Kopf ist sacht auf die rechte Schulter gedreht. Haare und linkes Ohr sind skizzenhaft hingestrichelt und unterstreichen das Wehrlose, Verletzliche des Kindes. Der kleine Schläfer - man hört ihn fast im Schlaf atmen - ist der dreijährige Nathanael, das jüngste der sechs Kinder der Heidelberger Künstlerfamilie Schmitt (vgl. Kunstwerk des Monats Nr. 236). Guido Schmitt zeichnet seinen kleinen Bruder immer wieder: schlafend, spielend und zeichnend (dieser wird wie Bruder und Vater auch Maler werden). Im Schlaf aber bewegt sich "das Nathanaelchen, das liebe Brüderchen", wie G.S. zärtlich unter seine Zeichnungen im Skizzenbuch notiert, nicht. Hier gleicht er den Engeln und dem Jesuskind als menschgewordener Heiland. Sein Bruder wird ihm so zum idealisierten Kind, das er hier ohne erzählerische Komponente in einem überzeitlichen Aspekt darstellt. Im gleichen Jahr aquarelliert er den Bruder von oben gesehen, schlafend in ein Kissen geschmiegt. Dieses handgroße Bildnis erinnert an heutige Babyphotos. G.S. behält dieses kleine Aquarell lebenslang in seinem Besitz. Jahre später, 1875, ist Schmitt Portraitist in England, dort zeichnet er in ähnlicher Manier einen schlafenden Buben, der ihn an seinen Bruder erinnert haben mag, in sein Skizzenbuch.
Kinder sind in der Kunst bis über das 15. Jahrhundert hinaus überwiegend als Engel oder Jesusknaben zu finden. Sie werden als Nachwuchs aristokratischer Familien dargestellt. Später zeigen anteilnehmende Bildnisse Kinder in ihrer unmittelbaren Lebenswelt des familiären und dörflichen Milieus. Oft wird die innige Verbindung von Mutter und Kind, von Geschwistern oder zu Tieren thematisiert. Im 19. Jahrhundert nimmt die Anzahl der Kinderbildnisse in der Biedermeierzeit zu. Das Kinderleben in der häuslichen Gemeinschaft oder spielend in der Natur sind bevorzugte Themen.
Zur Zeit der Aufklärung, am Ende des 18. Jahrhunderts, erkannte man die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten kindlicher Entwicklung und die damit verbundenen Bedürfnisse. Es kam zur eigentlichen "Entdeckung der Kindheit"(Ph. Ariès). Für das Kind bedeutete das mehr Zuwendung und Schutz, es musste sich aber auch zunehmend differenzierten pädagogischen Regeln und Erziehungsmechanismen unterwerfen. Im 19. Jahrhundert verdichteten sich die Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Erziehern. Kindergärten, bessere Schulen und medizinische Versorgung schützten die Kinder. Die bürgerliche Familie zog sich in eine Sphäre der Privatheit zurück. Das weibliche Aktionsfeld beschränkte sich zunehmend aufs Haus, wo die Frau als "gute Frau und Mutter" zu wirken hatte. Hier wurde die Frau zur Spezialistin nicht nur für das leibliche Wohl, sondern auch für die geistige Entwicklung und das familiäre Binnenklima. Solch eine Frau repräsentierte Guido und Nathanaels Mutter, Katharina Schmitt geb. Kaysser (1808 - 1888). Diese "Verhäuslichung" disqualifizierte zunehmend das Aufwachsen der Kinder auf der Straße und in schichtenübergreifender Nachbarschaft, das Leben des Kindes fand in der Wohnung, im "Schoße der Familie" statt.
Diese Geborgenheit zeigt Guido Schmitt: ein gezeichnetes Wiegenlied. Solch ein Wiegenlied erinnert an mütterlichen Schutz und die Seelenruhe der ersten Kinderjahre. Einschlafen ist ein Abenteuer, das unmittelbar nach der Geburt beginnt, wenn das Neugeborene lernt, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden. Es träumt. Dieses Träumen beginnt bereits in den letzten Wochen des intrauterinen Lebens und verringert sich im Laufe des Lebens. Mit drei Jahren schläft ein Kind noch bis zu 12 Stunden, es ist bereits fähig, sich eine Vorstellung auszudenken, die fehlende Anwesenheit der Eltern anderswo vorzustellen. Es erfindet Bilder, Geschichten. Es baut eine Welt auf, die keiner anderen gleicht, es bearbeitet Ängste, meistert Phantasien. Der schlafende Nathanael findet seinen literarischen Widerpart in Theodor Storms "kleinem Häwelmann" (1849), dem kleinen Jungen, der nicht schlafen und immer "mehr" will. - Dies ist ein wesentlicher Schritt beim Heranwachsen des kleinen Menschen und ausschlaggebend für den Erwerb seines autonomen Bewusstseins. Erwachsene lesen deshalb Kindern Märchen vor, die helfen, sein Seelenleben zu gestalten. In vielen Märchen nimmt der Schlaf breiten Raum ein, er gestattet der Handlung, die Grenzen der Zeit und des Raums zu überwinden. Der glückliche Märchenschluss bildet den Trost des Geborgenseins und die Gewissheit: "Wisse, dass du nicht verlassen bist"(B. Bettelheim).
Schlaf bedeutet die vollkommene Abwesenheit, im Schlaf sind wir wir selbst. Die Träume sind die unbewussten Räume des Seelenlebens. Guido Schmitt hält in seiner Zeichnung die Zeit an und zeigt die Utopie des Schlafes: die Zeit steht still und das Kind ist allein und frei. Sein Körper atmet ruhiger, die Skelettmuskeln lockern sich, sein arterieller Blutdruck sinkt ... die hinteren Hirnregionen und der Hirnstamm werden erst schwach, dann stärker erregt, begleitet vom fortschreitenden Erlöschen der Region der Hirnoberfläche, die für den Wachzustand verantwortlich ist. Diese Nachtseite eines Lebens dauert immerhin ca. 200.000 Stunden: "Der Schlaf als köstlichste Erfindung"(H. Heine).
Fünfzig Jahre, nachdem Guido Schmitt seinen schlafenden Bruder gezeichnet hatte, erkannte Sigmund Freud die druckentlastende, kathartische Wirkung des Schlafs und der Träume in seiner "Traumdeutung". Künstlern wie Paula Modersohn-Becker, Pablo Picasso, Otto Dix u.a. wird das idealisierte Kind zum psychologisch durchdrungenen Individuum.
Heute ist im Video des Videokünstlers Sam Taylor-Wood (2004) das Kind erwachsen geworden: Es zeigt den Fußballspieler David Beckham in ganz ähnlicher Haltung auf ein Kissen verfrachtet und gefilmt: beim Schlafen. 107 Minuten lang kann er in der Londoner National Portrait Gallery öffentlich dabei besichtigt werden. "Schlafe, mein Prinzchen ..." (F.W.Gotter)

Text: Angelika Dirscherl

Literatur:
Achim von Arnim/Clemens Brentano. Des Knaben Wunderhorn, München 1922
Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München/Wien 1975
Andreas Franzke: Georg Philipp Schmitt, Karlsruhe 1977
Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, Frankfurt/M. 1978
Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls, München 1981
Dagmar v. Gersdorff: Kinderbildnisse aus vier Jahrtausenden, Berlin 1986
Sophie de Sivry: Die Kunst des Schlafs, Wien 1997
Carl Ludwig Fuchs / Susanne Himmelheber: Biedermeier in Heidelberg 1812-1853, Heidelberg 1999

 

Guido Schmitt (Heidelberg 1834 - 1922 Miltenberg)
"Der Bruder Nathanael schlafend" (15.8.50)
Bleistift auf Papier, 21,2 x 26,5 cm
(1960 aus dem Heidelberger Kunsthandel erworben)

Foto: Museum

 
 
siehe auch: Bild im Großformat
zurück zur Übersicht

weiter:  Juni 2006


Hauptmenü | Heidelberg | Kurpfälzisches Museum | Register | Impressum | ZUM |
© Text und Abbildung Kurpfälzisches Museum 2006
© Gestaltung Badische Heimat 2006

-