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"Gute Nacht,
mein Kind !
Guten Abend, gute Nacht,
Mit Rosen bedacht, ..."
(aus: Des Knaben Wunderhorn, 1806/08)
Alle tun es.
Vögel tun es. Männer und Frauen tun es, Kinder tun es. Insekten,
sogar Algen tun es. Katzen tun es bis zu fünfzehn Stunden am Tag.
Warum wir schlafen, wissen wir nicht. Ohne Schlaf werden Menschen
krank, sterben (Schlafentzug ist eine bekannte Foltermethode).Vielleicht
weil wir den langen, naiven Schlaf der Tiere und der Kinder instinktiv
mit der Phase unschuldigen Glücks gleichsetzen, hat der Schlaf
Künstler und Denker aller Zeiten fasziniert.
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In der Romantik
und dem Biedermeier gehören Schlaf, Traum, Mond zum Repertoire der
Kunst und spiegeln die Sehnsucht nach der Harmonie von Schöpfung
und Mensch wider. (Bereits 1808/09 lässt Philipp Otto Runge ein
kleines Kind auf einer Wiese als "Morgen" aus Schlaf und Traum aufwachen.) Guido
Schmitt zeichnet 1850 als Sechzehnjähriger seinen kleinen Bruder,
als liege er direkt neben ihm, auf Augenhöhe. Das kleine Gesicht,
dessen Licht- und Schattenwerte mit Bleistift geschickt und sicher
gesetzt sind, liegt auf dem mit knappen Parallelschraffuren nur
angedeuteten Kissen, der Kopf ist sacht auf die rechte Schulter
gedreht. Haare und linkes Ohr sind skizzenhaft hingestrichelt und
unterstreichen das Wehrlose, Verletzliche des Kindes. Der kleine
Schläfer - man hört ihn fast im Schlaf atmen - ist der dreijährige
Nathanael, das jüngste der sechs Kinder der Heidelberger Künstlerfamilie
Schmitt (vgl. Kunstwerk des Monats Nr. 236). Guido Schmitt zeichnet
seinen kleinen Bruder immer wieder: schlafend, spielend und zeichnend
(dieser wird wie Bruder und Vater auch Maler werden). Im Schlaf
aber bewegt sich "das Nathanaelchen, das liebe Brüderchen", wie
G.S. zärtlich unter seine Zeichnungen im Skizzenbuch notiert, nicht.
Hier gleicht er den Engeln und dem Jesuskind als menschgewordener
Heiland. Sein Bruder wird ihm so zum idealisierten Kind, das er
hier ohne erzählerische Komponente in einem überzeitlichen Aspekt
darstellt. Im gleichen Jahr aquarelliert er den Bruder von oben
gesehen, schlafend in ein Kissen geschmiegt. Dieses handgroße Bildnis
erinnert an heutige Babyphotos. G.S. behält dieses kleine Aquarell
lebenslang in seinem Besitz. Jahre später, 1875, ist Schmitt Portraitist
in England, dort zeichnet er in ähnlicher Manier einen schlafenden
Buben, der ihn an seinen Bruder erinnert haben mag, in sein Skizzenbuch. Kinder
sind in der Kunst bis über das 15. Jahrhundert hinaus überwiegend
als Engel oder Jesusknaben zu finden. Sie werden als Nachwuchs aristokratischer
Familien dargestellt. Später zeigen anteilnehmende Bildnisse Kinder
in ihrer unmittelbaren Lebenswelt des familiären und dörflichen
Milieus. Oft wird die innige Verbindung von Mutter und Kind, von
Geschwistern oder zu Tieren thematisiert. Im 19. Jahrhundert nimmt
die Anzahl der Kinderbildnisse in der Biedermeierzeit zu. Das Kinderleben
in der häuslichen Gemeinschaft oder spielend in der Natur sind bevorzugte
Themen. Zur Zeit der Aufklärung, am Ende des 18. Jahrhunderts, erkannte
man die ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten kindlicher Entwicklung und
die damit verbundenen Bedürfnisse. Es kam zur eigentlichen "Entdeckung
der Kindheit"(Ph. Ariès). Für das Kind bedeutete das mehr Zuwendung
und Schutz, es musste sich aber auch zunehmend differenzierten pädagogischen
Regeln und Erziehungsmechanismen unterwerfen. Im 19. Jahrhundert
verdichteten sich die Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Erziehern.
Kindergärten, bessere Schulen und medizinische Versorgung schützten
die Kinder. Die bürgerliche Familie zog sich in eine Sphäre der
Privatheit zurück. Das weibliche Aktionsfeld beschränkte sich zunehmend
aufs Haus, wo die Frau als "gute Frau und Mutter" zu wirken hatte.
Hier wurde die Frau zur Spezialistin nicht nur für das leibliche
Wohl, sondern auch für die geistige Entwicklung und das familiäre
Binnenklima. Solch eine Frau repräsentierte Guido und Nathanaels
Mutter, Katharina Schmitt geb. Kaysser (1808 - 1888). Diese "Verhäuslichung"
disqualifizierte zunehmend das Aufwachsen der Kinder auf der Straße
und in schichtenübergreifender Nachbarschaft, das Leben des Kindes
fand in der Wohnung, im "Schoße der Familie" statt. Diese Geborgenheit
zeigt Guido Schmitt: ein gezeichnetes Wiegenlied. Solch ein Wiegenlied
erinnert an mütterlichen Schutz und die Seelenruhe der ersten Kinderjahre.
Einschlafen ist ein Abenteuer, das unmittelbar nach der Geburt beginnt,
wenn das Neugeborene lernt, zwischen Tag und Nacht zu unterscheiden.
Es träumt. Dieses Träumen beginnt bereits in den letzten Wochen
des intrauterinen Lebens und verringert sich im Laufe des Lebens.
Mit drei Jahren schläft ein Kind noch bis zu 12 Stunden, es ist
bereits fähig, sich eine Vorstellung auszudenken, die fehlende Anwesenheit
der Eltern anderswo vorzustellen. Es erfindet Bilder, Geschichten.
Es baut eine Welt auf, die keiner anderen gleicht, es bearbeitet
Ängste, meistert Phantasien. Der schlafende Nathanael findet seinen
literarischen Widerpart in Theodor Storms "kleinem Häwelmann" (1849),
dem kleinen Jungen, der nicht schlafen und immer "mehr" will. -
Dies ist ein wesentlicher Schritt beim Heranwachsen des kleinen
Menschen und ausschlaggebend für den Erwerb seines autonomen Bewusstseins.
Erwachsene lesen deshalb Kindern Märchen vor, die helfen, sein Seelenleben
zu gestalten. In vielen Märchen nimmt der Schlaf breiten Raum ein,
er gestattet der Handlung, die Grenzen der Zeit und des Raums zu
überwinden. Der glückliche Märchenschluss bildet den Trost des Geborgenseins
und die Gewissheit: "Wisse, dass du nicht verlassen bist"(B. Bettelheim). Schlaf
bedeutet die vollkommene Abwesenheit, im Schlaf sind wir wir selbst.
Die Träume sind die unbewussten Räume des Seelenlebens. Guido Schmitt
hält in seiner Zeichnung die Zeit an und zeigt die Utopie des Schlafes:
die Zeit steht still und das Kind ist allein und frei. Sein Körper
atmet ruhiger, die Skelettmuskeln lockern sich, sein arterieller
Blutdruck sinkt ... die hinteren Hirnregionen und der Hirnstamm
werden erst schwach, dann stärker erregt, begleitet vom fortschreitenden
Erlöschen der Region der Hirnoberfläche, die für den Wachzustand
verantwortlich ist. Diese Nachtseite eines Lebens dauert immerhin
ca. 200.000 Stunden: "Der Schlaf als köstlichste Erfindung"(H. Heine). Fünfzig
Jahre, nachdem Guido Schmitt seinen schlafenden Bruder gezeichnet
hatte, erkannte Sigmund Freud die druckentlastende, kathartische
Wirkung des Schlafs und der Träume in seiner "Traumdeutung". Künstlern
wie Paula Modersohn-Becker, Pablo Picasso, Otto Dix u.a. wird das
idealisierte Kind zum psychologisch durchdrungenen Individuum.
Heute ist im Video des Videokünstlers Sam Taylor-Wood (2004) das
Kind erwachsen geworden: Es zeigt den Fußballspieler David Beckham
in ganz ähnlicher Haltung auf ein Kissen verfrachtet und gefilmt:
beim Schlafen. 107 Minuten lang kann er in der Londoner National
Portrait Gallery öffentlich dabei besichtigt werden. "Schlafe, mein
Prinzchen ..." (F.W.Gotter)
Text:
Angelika Dirscherl
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Literatur:
Achim von Arnim/Clemens Brentano. Des Knaben Wunderhorn, München
1922
Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München/Wien 1975
Andreas Franzke: Georg Philipp Schmitt, Karlsruhe 1977
Bruno Bettelheim: Kinder brauchen Märchen, Frankfurt/M. 1978
Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls,
München 1981
Dagmar v. Gersdorff: Kinderbildnisse aus vier Jahrtausenden, Berlin
1986
Sophie de Sivry: Die Kunst des Schlafs, Wien 1997
Carl Ludwig Fuchs / Susanne Himmelheber: Biedermeier in Heidelberg
1812-1853, Heidelberg 1999
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