Kunstwerk des Monats
Oktober 2005
- Sammlungsblatt -

Kinderkleid

Benedikt - Kunstwerk des Monats im Kurpfälzishcen Museum Heidelberg

Kinderkleid, um 1760 - 1780

Kindheit bedeutet heutzutage für uns Behütetsein, die eigene Persönlichkeit spielerisch entfalten zu können sowie ein Anrecht auf Bildung. Dieses Verständnis setzte sich aber erst im 18. Jahrhundert in der Zeit der Aufklärung durch, gefördert von den Theorien und Schriften eines John Locke („Gedanken über Erziehung“, 1693) oder Jean Jacques Rousseau („Emil, oder Über die Erziehung“, 1762). Zuvor wurden Kinder behandelt wie Erwachsene, mussten – wenn auch in abgeschwächtem Maß – die Tätigkeiten von Erwachsenen ausführen. Die Kleidung der Kinder war ein Spiegel der Erwachsenenmode und wie diese eingebunden in ein System aus wirtschaftlich-sozialen und ästhetischen Bedingungen.


Gerade der wirtschaftliche Aspekt der Kleidung spielte in der starken sozialen Schichtung der Gesellschaft des 17. und 18. Jahrhunderts eine wichtige Rolle: Durch feinste und teuerste Stoffe und deren aufwändige Verarbeitung und Verzierung durch Aufputz demonstrierte man seine gesellschaftliche Stellung. Auch die Kinderkleidung folgte diesem Schema, war Prestigeobjekt und sollte den Träger eindeutig zu den anderen Ständen hin abgrenzen. Dementsprechend änderte sich die Mode der Oberschicht weitaus häufiger als jene der unteren Schichten. Die Frage, ob eine solche Kleidung bequem und der Entwicklung der Kinder förderlich sei, stellte sich erst gar nicht.
Lediglich die Säuglingsphase unterschied sich von der Erwachsenenwelt, indem die Neugeborenen mit breiten Bändern in einer mehrstündigen Prozedur fest eingewickelt wurden. Dieser Brauch, der in den aus Holz geschnitzten sogenannten Fatschenkindern überliefert ist, sollte die Säuglinge vor Verletzungen durch unkontrollierte Bewegungen schützen und Rücken und Gliedmaßen gerade halten. Mit Sicherheit jedoch verzögerte er die Entwicklung des Kindes durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und hatte möglicherweise gesundheitliche Folgen.
In der nachfolgenden Kindheitsphase, die je nach Zeitepoche und Sozialisation bis zum Alter von 4 bis 7 Jahren andauern konnte, unterschieden sich Mädchen und Jungen äußerlich kaum voneinander (es sei denn durch Attribute wie Waffen/Peitschen/Steckenpferd oder Puppe), da beide Geschlechter Kleider trugen. Diese Sitte lässt sich stellenweise bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein feststellen und gibt Anlass für zahlreiche Spekulationen. Mancher sieht in ihr die Ungeschlechtlichkeit von Kleinkindern bestätigt, wogegen jedoch die Tatsache spricht, dass die Jungen wie Mädchen gekleidet wurden und sich nicht etwa eine Zwitterform der Kleidung ergeben hat. Einleuchtender ist die Erklärung, dass die Bezugspersonen der Kleinkinder nahezu ausschließlich weibliche Personen waren und die Kinderkleidung dem Rechnung trug. Dafür spricht die Vermännlichung der Knabenkleidung ab dem Alter, in dem die Jungen unter die Obhut männlicher Personen gestellt wurden. Ebenso berechtigt mag eine dritte Erklärung sein, die hygienische Gründe für diesen Brauch anführt, der es den unter den Röcken nackten Kindern ermöglichte, sich schneller und sauberer zu entleeren.
Äußerlich unterschied sich die Kinderkleidung dieser Altersphase von derjenigen erwachsener Frauen lediglich durch ein paar Details: Um den Kindern beim Laufenlernen behilflich zu sein, sie andererseits aber auch am Krabbeln zu hindern, was als tierisch galt, befestigte man am rückwärtigen Ärmelansatz sogenannte Gängelbänder. Darüber hinaus trugen Kinder zumeist eine Schürze. Den Kopf bedeckte entweder ein sogenannter Fallhut, eine Wulst, die vor Verletzungen schützen sollte, oder aber ein Kinderhäubchen.
Nach Ablauf dieser zweiten Kindheitsphase differenzierte sich die Jungen- und Mädchenkleidung: Die Knaben trugen fortan die Kleidung der erwachsenen Männer, wobei das Anlegen der ersten Hose ein wichtiges Ritual – fast einen Initiationsritus – darstellte.
Als Ursache für die grundsätzliche Gleichheit von Kinder- und Erwachsenenkleidung vermutet man die Absicht, den Prozess der Sozialisation wegen der geringen Lebenserwartung in dieser Zeit schnellstmöglich durchzuführen. Für die Mädchen bedeutete diese Gleichheit, wie ihre Mütter täglich durch Schnürleiber eingezwängt zu werden, was dann schließlich die oben genannten Reformtheoretiker zu schärfster Kritik veranlasste. So entwickelte sich – ausgehend von England – zwischen 1760 und 1790 eine reformierte Kinderkleidung, die der Reform der Damenkleidung weit vorauseilte und durch das Aufkommen der Modejournale große Verbreitung fand: Die Knaben trugen fortan eine lange, bequeme Hose und einen taillenkurzen Rock oder aber auch einen einteiligen Anzug, die Mädchen ein Kleid mit unversteiftem Oberteil mit angekraustem Rock, zumeist aus leichten Baumwollstoffen.
Eine neue Anschauung von Kindheit setzte sich durch, die mit der Bejahung kindlicher Bewegungsfreiheit und dem Hinauszögern der Übernahme erwachsener Kleidungsriten einherging. In dieser Zeit kamen in den besseren Kreisen auch die Babyfarben Rosa und Blau auf. Das Kleid eines etwa 3-jährigen Mädchens aus der Textilsammlung Max Berk soll aus einer Dresdner Apothekerfamilie stammen und von der Mutter einer Hofdame der Kaiserin Charlotte von Mexiko getragen worden sein. Die delikat gemusterte, altroséfarbene Seide, mit farblich differenzierten Rosenbouquets auf dezent kariertem Fond, lässt Rückschlüsse auf die hohe soziale Stellung der Trägerin zu. In Verbindung mit dem Schnitt verweist sie – entgegen der Datierung des ehemaligen Sammlers auf 1780 – auf eine etwas frühere Entstehung um etwa 10 bis 20 Jahre. Das hinten geschnürte Kleid besitzt ein zeittypisches Décolleté, charakteristische Ärmel, die lediglich den Oberarm bedecken und mit Spitze verziert sind, eine Schnebbentaille und einen angekräuselten Rock mit kleiner Schleppe. Innen angenähte Seidenbänder waren zum Raffen des Rockes gedacht.

Kristine Scherer

Literatur:

Literatur: Bleckwenn, Ruth: Gesellschaftliche Funktionen bürgerlicher Kinderkleidung in Deutschland zwischen 1770 und 1900. Inaugural-Dissertation, Münster 1989.
Von Boehn, Max: Die Mode. Eine Kulturgeschichte vom Barock bis zum Jugendstil, München 1976.
Kleine Erwachsene. Kindheit zur Bachzeit. Ausstellungskatalog, hrsg. vom Bach-Archiv Leipzig, 2004.
Weber-Kellermann, Ingeborg: Der Kinder neue Kleider. Zwei Jahrhunderte deutsche Kindermoden in ihrer sozialen Zeichensetzung, Frankfurt 1985.
www.efh-bochum.de/Homepages/henke/vu/Wandel.htm
www.uni-weimar.de/architektur/e+gel1/projekte/kosovo/ Seminare/Greifzu/geschich.html

 

Dresden, um 1760 bis 1780
Broschierte Seide, Leinen, Chintz Länge 60 cm, Taille 45 cm,
Inv.-Nr. 1/660-8

Bild: Museum
 
 
siehe auch:  
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